Der oscargekrönte Film «Für immer hier» über die Diktatur vor 50 Jahren ist mit der Anklage gegen den Ex-Präsidenten Bolsonaro wegen Putschversuchs plötzlich politisch hochbrisant. Es geht um die Deutungshoheit über die damaligen Ereignisse.
Am 22. April 1970 änderte sich das Leben von Bia Farkas schlagartig. Die 18-jährige Studentin der Erziehungswissenschaften wurde in ihrem Elternhaus in São Paulo vom Militär verhaftet. Ohne Angabe von Gründen und ohne Haftbefehl brachten Soldaten in Zivil sie in das berüchtigte Foltergefängnis in der Rua Tutóia.
Es war die heisse Phase der Repression unter den Militärs, die 1964 geputscht hatten. Willkürliche Verhaftungen und Folter gehörten seit 1968 zum Instrumentarium der Militärs, um den linken Widerstand zu brechen. Ein halbes Jahr zuvor hatte eine Stadtguerilla in Rio de Janeiro den amerikanischen Botschafter während vier Tagen entführt – eine schwere Demütigung für die Militärs.
Bia Farkas Bitelman, so heisst sie heute, sagt, sie habe sich damals keine Sorgen gemacht. Sie hatte keinen Kontakt zur Guerilla. Sie stammte aus einer weltoffenen, wohlhabenden, intellektuellen Familie in São Paulo. Ihr Vater Tomás Farkas wurde später als Fotograf berühmt. In São Paulo besass die Familie ein florierendes Optiker- und Fotogeschäft.
Freunde verliessen das Land oder wurden gefoltert
Farkas Bitelman besuchte das Gymnasium, an dem linke Lehrer der staatlichen Universität von São Paulo unterrichteten. Mit ihren Mitschülern studierte sie zu Hause Theaterstücke von Brecht ein. Intellektuelle und Künstler gingen hier ein und aus.
Viele von ihnen mussten später das Land verlassen oder wurden inhaftiert – oder beides: Der Komponist und Musiker Gilberto Gil kam vorbei, bevor er ins Exil nach London ging. Der spätere Zentralbanker Pérsio Arida war ein Klassenkamerad. Er sass sechs Monate im Gefängnis. Fernando Henrique Cardoso, nach dem Ende der Diktatur Präsident Brasiliens, versteckte sich im Strandhaus der Familie Farkas, bevor er nach Chile ins Exil floh.
Die Eltern verboten den vier Kindern, zu den illegalen Demonstrationen gegen das Regime zu gehen. «Wir sind trotzdem gegangen», sagt Farkas Bitelman. «Und dann haben wir dort die Eltern getroffen.»
Sie glaubt, dass ein Spitzel unter den Studenten sie verraten hat. Bei einem linksradikalen Kommilitonen sei ein Zettel gefunden worden, dass er von der Optikerkette ein Nachtsichtfernglas bekomme. «So etwas hatten wir damals gar nicht im Angebot.»
Die Militärs befragten Farkas Bitelman immer wieder, folterten sie aber nicht. In ihrer Zelle sassen Frauen, die brutal verhört wurden. Ihre Mutter brachte täglich Essen. Auch der Vater Tomás wurde für acht Tage verhaftet. Auch er wurde verschont. «Wir hatten Glück», sagt sie. «Es hätte uns viel schlimmer treffen können.»
Vergangenheitsbewältigung wird wieder zum Thema
Kein Glück hatte jedoch die Familie Paiva, die im neuesten Film des bekannten brasilianischen Regisseurs Walter Salles («Central do Brasil», «Die Reise des jungen Che») porträtiert wird. Ihr Schicksal gleicht nicht nur dem der Farkas, die beiden Familien waren auch eng befreundet. Der Film hat in Brasilien dafür gesorgt, dass die Themen Menschenrechte und Folter während der Diktatur erneut prominent auf der politischen Agenda gelandet sind.
«Ainda estou aqui» kam im November in die Kinos und ist bereits jetzt einer der meistgesehenen Filme in der Geschichte Brasiliens. Er gewann diesen Monat den Oscar als bester internationaler Film. «Für immer hier» ist der deutsche Titel des Films, der gerade in der Deutschschweiz in die Kinos kommt.
Rubens Paiva und seine Frau Eunice lebten in Rio, wo sie die Farkas oft besuchten. Ihr Haus in Leblon am Strand von Rio war ebenso ein Treffpunkt für Intellektuelle, Freunde und Bekannte wie das der Farkas in São Paulo. Der linksnationalistische Abgeordnete Paiva, der durch den Putsch sein Mandat verloren hatte, war nach kurzem Exil nach Brasilien zurückgekehrt.
Mit seiner Frau und den fünf Kindern zog Paiva nach Rio de Janeiro, wo er als Bauingenieur arbeitete. Er hoffte, unter dem Radar der Diktatur fliegen zu können. Gleichzeitig verhalf er Verfolgten ins Exil und übermittelte Nachrichten. Seine Frau wusste nichts davon. Ähnlich müsse es bei ihren eigenen Eltern gewesen sein, schätzt Farkas Bitelman heute.
Doch für die Paivas ging es nicht gut aus: Am 20. Januar 1971, rund ein halbes Jahr nach den Farkas, wurde Paiva von Schergen des Regimes zu Hause abgeholt. Wenige Wochen zuvor war der Schweizer Botschafter Giovanni Enrico Bucher in Rio de Janeiro von Stadtguerilleros entführt worden – und erst nach 40 Tagen wieder freigelassen. Eunice Paiva wurde elf Tage lang verhört, die älteste Tochter kurzzeitig inhaftiert. Doch Rubens Paiva kehrte nie zurück. Jahrzehntelang behaupteten die Militärs, er sei geflohen.
Eunice Paiva begann eine jahrzehntelange Suche nach ihrem Mann – auch als sie längst wusste, dass er tot war. Sie zog mit ihren Kindern nach São Paulo, studierte Jura und wurde mit 47 Jahren Anwältin.
43 Jahre dauerte es, bis die Mörder Paivas bekannt wurden
Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus – wenn auch spät: Erst 1996, 25 Jahre nach seinem Verschwinden, bestätigten die Behörden schliesslich den Tod ihres Mannes. Zum ersten Mal gab der brasilianische Staat zu, dass in seinem Auftrag Menschen ermordet wurden und Ermordete systematisch verschwanden.
2014 fand die Nationale Wahrheitskommission schliesslich Beweise dafür, dass Rubens Paiva bereits 48 Stunden nach seiner Verhaftung bei Verhören zu Tode gefoltert worden war. Doch die fünf beteiligten Offiziere wurden nicht vor Gericht gestellt. Sie profitierten von der Amnestie, welche die Militärs bei ihrem Rückzug in die Kasernen ausgehandelt hatten.
Salles zeigt in seinem Film über Eunice Paiva, wie sie nach dem Verschwinden ihres Mannes jahrzehntelang nach ihm sucht und dabei ihr Leben und das ihrer Familie eisern unter Kontrolle hält. Der gemeinsame Sohn Marcelo, selbst ein bekannter brasilianischer Schriftsteller, hat vor zehn Jahren ein Buch über seine Mutter veröffentlicht. Es diente Salles als Vorlage für seinen Film. Es sei die einzigartige Gelegenheit gewesen, eine Diktatur mit dem Mikrokosmos einer Familie zu beschreiben, sagt Salles.
Angehörige können nun eine Untersuchung beantragen
Der Film hat in Brasilien eine neue Auseinandersetzung mit der grausamen Vergangenheit unter dem Militärregime ausgelöst. Denn während Länder wie Argentinien, Chile und Uruguay bei der Aufarbeitung ihrer Diktaturen deutlich weiter sind, steht Brasilien 40 Jahre nach dem Ende des Regimes noch am Anfang. Lange redete sich die brasilianische Gesellschaft damit heraus, dass die Diktatur in Brasilien weniger brutal gewesen sei als die Militärjunta in Argentinien und Pinochets Herrschaft in Chile.
Doch auch in Brasilien wurden mindestens 434 Menschen getötet, 200 verschwanden spurlos und mehrere tausend wurden gefoltert. Für ihre Menschenrechtsverletzungen wurden die Militärs – anders als in den Nachbarländern – jedoch nie zur Rechenschaft gezogen. Noch 2010 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Amnestie.
Doch nun kommt plötzlich Bewegung in die Angelegenheit: Seit einigen Wochen können Angehörige auf den Standesämtern den Staat als Verantwortlichen für den Tod bestätigen lassen und bei den Behörden eine Untersuchung beantragen – ohne den Film wäre das nicht so schnell geschehen. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens berät darüber, ob die Amnestie für Paiva und zwei weitere verschwundene Dissidenten gelten soll oder ob sie gegen Menschenrechtsabkommen verstösst, die Brasilien unterzeichnet hat.
Das alles ist politisch hochbrisant. Vor einem Monat hat nämlich die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben gegen den früheren Präsidenten Bolsonaro und 33 weitere Personen, unter ihnen hochrangige Militärs. Der Sturm ihrer Anhänger auf das Regierungsviertel vor zwei Jahren ist laut der Anklage der Versuch eines Staatsstreichs gewesen, den Bolsonaro mit seinen Verschwörern in Uniform geplant habe. Eine Verurteilung gilt als wahrscheinlich, möglicherweise noch in diesem Jahr. Bolsonaro drohen 12 bis 40 Jahre Haft.
Bolsonaro ist empört: Ein Oscar für einen Kommunisten?
Der ehemalige Hauptmann Bolsonaro hat Folter stets als legitim verteidigt. Einen der berüchtigtsten Foltergeneräle der Diktatur verehrt er als Idol. «Der Fehler der Diktatur war, zu foltern und nicht zu töten», sagt er. Als 2014 eine Büste von Paiva im Kongress aufgestellt wurde, spuckte der damalige Abgeordnete Bolsonaro vor den Augen seiner Familie darauf.
Umso empörter sind Bolsonaro und seine Fans, dass nun ein Film über den «Kommunisten» Paiva einen Oscar gewonnen hat. Paiva werde heute gefeiert, aber einige der Unschuldigen, die vor zwei Jahren im Regierungsviertel protestiert hätten, sässen immer noch in Haft. Sie seien die echten Märtyrer, erklärte einer der Bolsonaro-Söhne. Zuvor hatten die Rechten um Bolsonaro zum Boykott des Films aufgerufen.
Der Hass Bolsonaros auf Paiva erklärt sich auch aus seiner Biografie. Denn die Lebenswege der beiden kreuzten sich schon früh: Paivas Vater war Grossgrundbesitzer und mehrmals Bürgermeister der ländlichen Gemeinde Eldorado im Teilstaat São Paulo. Dort wuchs auch Jair Bolsonaro auf, dessen Vater die Familie mit sechs Kindern als illegaler Zahnzieher und Goldsucher über Wasser hielt.
In einer von Senator Flavio Bolsonaro verfassten Biografie über seinen Vater beschreibt dieser unfreiwillig anschaulich den Sozialneid, den der junge Bolsonaro gegenüber den privilegierten Kindern der Paivas hegte. Detailliert beschreibt er, wie sich die verhassten «Kommunistenkinder» im Sommer im eigenen Swimmingpool abkühlten und im Dorf teures Lutscheis kauften.
Amnestie für den Sturm aufs Regierungsviertel?
Der Neid auf die privilegierten Paivas muss Bolsonaros politischen Blick getrübt haben. Denn der Grossgrundbesitzer und Vater des linken Abgeordneten Paiva war Bürgermeister für die dem Militär nahestehende Arena-Partei. Er galt als «Coronel», also als autoritärer, konservativer Lokalpolitiker. Deshalb hatte sich Rubens Paiva auch mit seinem Vater überworfen.
Der frühere Präsident und die beteiligten Militärs fordern nun eine Amnestie für alle, die am Sturm auf das Regierungsviertel beteiligt waren. Sie hoffen, straffrei davonzukommen. Wieder einmal. Gut möglich, dass der Film von Walter Salles das diesmal verhindert.