Die türkische Polizei hat Ekrem Imamoglu, den populären Bürgermeister von Istanbul, verhaftet. Der Oppositionspolitiker hätte am Wochenende zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten der Regierungsgegner ernannt werden sollen.
Die schlimmsten Befürchtungen der türkischen Opposition haben sich am Mittwoch bewahrheitet. Am frühen Morgen haben Einheiten der Polizei den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu festgenommen. Ihm werden Verbindungen zu einer Terrororganisation sowie die Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen.
Oppositionsführer spricht von Putsch
Zusammen mit Imamoglu wurden unter denselben Anklagepunkten mehr als 100 weitere Personen in Untersuchungshaft genommen, unter ihnen viele Weggefährten und Parteigenossen des populären Politikers. Imamoglu gehört der kemalistischen CHP an, der stärksten Oppositionspartei in der Türkei. Der Parteivorsitzende Özgür Özel sprach in einer ersten Reaktion von einem Putsch und einem entscheidenden Moment für die Zukunft der türkischen Demokratie.
Die Regierung in Ankara hat in den vergangenen Wochen die Schraube gegenüber ihren Gegnern spürbar angezogen. Regelmässig kam es zu Verhaftungen und Absetzungen gewählter Politiker. In diesem Zusammenhang wurde auch über ein mögliches Vorgehen gegen Imamoglu spekuliert. Gegen den Oppositionspolitiker läuft eine ganze Reihe von politisch motivierten Verfahren.
Kurssturz an der Börse
Dennoch schlug die Nachricht seiner Verhaftung wie eine Bombe ein. Die Lira verlor am Mittwoch gegenüber den Leitwährungen stark an Wert, der Handel an der Börse von Istanbul wurde nach einem Kurssturz kurzfristig ausgesetzt.
Die Behörden verhängten ein viertägiges Versammlungsverbot in Istanbul. Der Zugang zu sozialen Netzwerken wie X, die angesichts der Dominanz regierungsnaher Medien in der Türkei eine wichtige Quelle für unabhängige Informationen sind, wurde vorübergehend blockiert.
Einige Metrostationen wurden gesperrt, darunter jene am Taksim-Platz. Der zentrale Platz im europäischen Teil der Bosporus-Metropole ist ein Symbol der kemalistischen republikanischen Partei und ein beliebter Demonstrationsort.
DeDie Staatsanwaltschaft teilte am Mittwoch zudem mit, dass einige Verfahren im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten neu aufgerollt würden. Der Gezi-Park, der direkt an den Taksim-Platz anschliesst, war 2013 Ausgangspunkt der bisher grössten Protestbewegung gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Umbau der Türkei. Die Niederschlagung der Bewegung beschleunigte die autokratische Wende in Erdogans Herrschaft.
Der Justizminister Yilmaz Tunc versandte am Mittwoch eine in sechs Sprachen übersetzte Erklärung an die Presse, in der er betonte, dass die Türkei ein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung sei. Jede Assoziierung der Verhaftungen vom Mittwoch mit Präsident Erdogan sei dreist und verantwortungslos.
Streit um Universitätsdiplom
Der Zeitpunkt der Grossrazzia vom Mittwoch ist kaum zufällig. Imamoglu sollte am Wochenende zum Präsidentschaftskandidaten der CHP ernannt werden. Zwar finden die nächsten regulären Wahlen in der Türkei erst 2028 statt. Doch die Partei des Republiksgründers Atatürk hoffte, durch eine frühe Festlegung das eigene Lager zu einen.
Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht seit längerem, einen Keil in das Lager ihrer Gegner zu treiben, etwa indem sie Imamoglu und den ebenfalls sehr populären Bürgermeister von Ankara gegeneinander ausspielt. Die beiden wichtigsten türkischen Oppositionspolitiker gehören innerhalb der CHP unterschiedlichen Flügeln an und vertreten etwa in der Kurdenfrage gegensätzliche Positionen.
Am Vorabend seiner Verhaftung war Imamoglus Universitätsabschluss aberkannt worden. Seit Wochen gab es Untersuchungen wegen angeblicher Regelverstösse bei Imamoglus Wechsel von einer Universität zur anderen. Laut unabhängigen Experten verlief aber alles nach damals geltendem Recht. Ein Universitätsdiplom ist in der Türkei eine Voraussetzung für eine Kandidatur ums höchste Staatsamt.
Absprachen mit Kurden
Die nun vorgebrachte Veruntreuung öffentlicher Gelder soll während Imamoglus Zeit als Bezirksbürgermeister im Istanbuler Stadtteil Beylikdüzü stattgefunden haben. Der Terrorvorwurf bezieht sich auf die Absprachen, die seine Partei im Vorfeld der Lokalwahlen vor einem Jahr mit kurdischen Gruppierungen getroffen hatte. Die Opposition hat die Wahlen in nahezu allen grossen Städten des Landes gewonnen.
Ein wichtiger Faktor dabei war, dass die Kurden ausserhalb ihres Kernsiedlungsgebiets im Südosten keine eigene Kandidaten aufstellten, sondern ihre Anhänger dazu aufriefen, die Opposition zu unterstützen. Aufgrund der starken Binnenmigration in der Türkei machen sie in vielen türkischen Grossstädten einen entscheidenden Wähleranteil aus.
Dieselbe Strategie war bereits bei den letzten Lokalwahlen 2019 erfolgreich gewesen, als Imamoglu erstmals zum Bürgermeister Istanbuls gewählt wurde und damit Erdogans Regierungspartei AKP nach 25 Jahren die Kontrolle über die grösste, reichste und wichtigste Stadt der Türkei entriss. Damals liess Erdogan die Wahl wiederholen, was Imamoglu jedoch nur stärkte.
Der Terrorvorwuf ist in jeder Hinsicht absurd, weil es sich um Absprachen mit demokratisch legitimierten Parteien handelte. Geradezu grotesk mutet vor diesem Hintergrund an, dass die Regierung seit einiger Zeit mit dem inhaftierten Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan verhandelt. Die PKK gilt auch im westlichen Ausland als Terrororganisation.
Parallelen im politischen Werdegang
Imamoglu gilt seit längerem als der Mann, der Präsident Erdogan dereinst gefährlich werden könnte. Viele Regierungsgegner hätten ihn sich schon bei der Präsidentschaftswahl 2023 als Kandidaten gewünscht. Der charismatische Politiker geniesst auch im religiös-konservativen Lager, der Kernwählerschaft von Erdogan, Sympathien. In der stark polarisierten Türkei ist das eine zentrale Voraussetzung für Erfolg.
Das mächtige Bürgermeisteramt von Istanbul ist ein Sprungbrett für die nationale Bühne. Auch Erdogan begann seine Karriere im Rathaus der Bosporusmetropole. Vergleiche zwischen den beiden Politikern sind beliebt in der Türkei. Beide stammen aus der konservativen Schwarzmeerregion, beide verfügen unbestreitbar über viel Charisma und politisches Talent. Auch ihre Art zu sprechen ist sehr ähnlich, obwohl es inhaltlich grosse Differenzen gibt zwischen der vereinenden Botschaft Imamoglus und der bewussten Polarisierung Erdogans.
Mit der Verhaftung Imamoglus kommt nun eine weitere Parallele hinzu. Erdogan sass 1999 wegen eines verbotenen Gedichts einige Monate in Haft. Politisch profitierte Erdogan von der Zeit im Gefängnis, weil sie seinem Kampf und dem seiner AKP gegen die alten Eliten und ihre Macht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieh.
Europa hofiert die Türkei
Auch Imamoglu wird nicht aufgeben. In einer Videobotschaft, die er unmittelbar vor der Abführung durch die Polizei aufnahm, wandte er sich an die Bürger der Türkei und versprach, weiterzukämpfen.
Seit den ersten Verfahren gegen Imamoglu gab es viele Debatten darüber, ob Erdogan seinen Herausforderer tatsächlich verhaften und ihn somit zum Märtyrer der Regierungsgegner machen würde. Kurz vor den Wahlen wäre das politische Risiko vermutlich zu gross gewesen. Nun erschien der Zeitpunkt offenbar opportun.
Auch aussenpolitisch hat Erdogan wenig zu befürchten. Angesichts der wachsenden Unsicherheit über das amerikanische Engagement in Europa wird die Türkei zurzeit regelrecht hofiert. Mit der geostrategisch äusserst wichtigen Lage, den zweitgrössten Streitkräften der Nato und der leistungsfähigen Rüstungsindustrie ist das Land für die künftige Sicherheitsarchitektur ein unerlässlicher Partner. Der Zustand der türkischen Demokratie ist dabei sekundär.