Weniger Wohlstand, weniger Sicherheit, mehr Asylsuchende, keine Bilateralen mehr: Der Bundesrat erstellt eine Schadensbilanz für die wohl wichtigste Abstimmung seit langem. Aber eine Frage bleibt offen.
Es wäre ein gewaltiges Experiment mit offenem Ausgang: Die SVP will in der Bundesverfassung festlegen, wie viele Menschen in der Schweiz leben dürfen. Die relevanten Grenzwerte würde sie mit ihrer «Nachhaltigkeitsinitiative» so definieren, dass sie relativ bald erreicht wären. Aber wie man das macht, die Einwohnerzahl eines ganzen Landes steuern, und was die Folgen eines solchen «Deckels» wären, wenn gleichzeitig die vielen Babyboomer in Rente gehen, ob dann zum Beispiel, wenn es eng wird, eher die Spitäler Personal im Ausland rekrutieren dürfen, die Bauern oder die Pharma: All das wird noch viel zu reden geben.
Die überfällige Debatte ist diese Woche definitiv lanciert worden. Erst hatte die FDP am Donnerstag den Kampf gegen den SVP-Plan lanciert und klargemacht, dass sie keinen Gegenvorschlag will. Dann hat der Bundesrat am Freitag seine Botschaft zur Initiative verabschiedet. Dass er sie ohne Gegenvorschlag ablehnt, dafür aber «Begleitmassnahmen» wie asylpolitische Verschärfungen und einen Ausbau der Wohnbauförderung vorschlägt, war schon länger bekannt.
Dennoch ist der zuständige Justizminister Beat Jans noch einmal persönlich vor die Medien getreten, um in allen Landessprachen eindringlich vor dem Begehren zu warnen. Die Initiative gefährde den Wohlstand, die Sicherheit und die Handlungsfreiheit, sagte er. Die Überlegung hinter dem letzten Punkt: Die Obergrenze könnte in Zukunft Entscheide erzwingen, die man dannzumal vielleicht gar nicht mehr will.
Der Ruf steht auf dem Spiel
Die magische Grenze liegt bei 10 Millionen Einwohnern. Wenn sie vor dem Jahr 2050 erreicht würde – was fast sicher der Fall sein wird –, müsste der Bund konkrete Massnahmen ergreifen. In letzter Konsequenz verlangt die Initiative ausdrücklich die Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU – und damit faktisch das Ende des bilateralen Wegs. Erste Massnahmen wären aber schon früher nötig, sobald die Zahl von 9,5 Millionen erreicht wird, was in etwa fünf Jahren geschehen dürfte.
Die Menschenrechtskonvention, die Flüchtlingskonvention, die Kinderrechtskonvention, der Uno-Pakt II: Aus diesen Verträgen müsste die Schweiz laut dem Bundesrat «voraussichtlich» aussteigen, wenn die Initiative angenommen würde. Die SVP hat für diesen Aspekt eigens ein Wortungetüm erfunden: «bevölkerungswachstumstreibend». Alle Übereinkommen, die dieses Kriterium erfüllen, müsste der Bund nach Erreichen des Grenzwerts sofort kündigen. Darunter werde das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Schweiz leiden, mahnt der Bundesrat.
SVP provoziert Mehrkosten im Asylwesen
Dass aber auch die Schweiz selbst leiden müsste, steht für ihn ebenfalls fest. Die Folgen eines Bevölkerungsplafonds gehen über den Arbeitsmarkt hinaus, auf dem viele Firmen schon heute über Rekrutierungsprobleme klagen. Prominent geht der Bundesrat auf den Asylbereich ein. Auch hier beginnen die Probleme mit der Kündigung der Personenfreizügigkeit, mit der zunächst einmal alle anderen Abkommen der Bilateralen I dahinfallen würden. Dies würde zwar den Handel erschweren, die Asylpolitik aber wäre noch nicht betroffen.
Das wäre erst dann der Fall, wenn die EU die Schweiz aus dem Schengen-und Dublin-System ausschliesst. Zwar gibt es hier keine Guillotineklausel oder einen anderen rechtlichen Automatismus. Aber politisch stellt die EU einen Zusammenhang zwischen dem freien Personenverkehr und Schengen/Dublin her. Laut dem Bundesrat wäre die Teilnahme der Schweiz «gefährdet».
Was dies für den Asylbereich hiesse, hat an der Medienkonferenz der Staatssekretär für Migration, Vincenzo Mascioli, dargelegt: Heute profitiert die Schweiz davon, dass im Dublin-System jener Staat für einen Migranten zuständig ist, in dem dieser das erste Asylgesuch einreicht. Reist er weiter und meldet sich in einem Staat an, können ihn die Behörden dieses Landes an die des ersten überstellen. Zurzeit krankt das System daran, dass zwei wichtige Länder, Italien und Griechenland, nicht kooperieren.
Trotzdem konnte die Schweiz laut Mascioli im vergangenen Jahr dreimal mehr Asylsuchende abgeben, als sie übernehmen musste. Während der ganzen Zeit, in der die Schweiz Teil von «Dublin» ist, sieht die Bilanz aus Berner Sicht noch besser aus: Die Schweiz konnte 40 000 Personen in andere Länder zurückschicken und musste ihrerseits 12 000 übernehmen. Weil ein Asylgesuch im Durchschnitt 100 000 Franken koste, falle dies auch finanziell ins Gewicht, sagte Mascioli. Er verwies zudem auf die Erfahrungen der Briten: Nach dem Ausscheiden aus der Dublin-Welt habe sich die Zahl der Asylgesuche im Vereinigten Königreich nahezu verdreifacht.
Wie würde die EU reagieren?
Und zum Schluss noch das vielleicht kniffligste Thema: die Beziehungen zur EU. Während die SVP-Initiative den bilateralen Weg mittelfristig beenden würde, plant der Bundesrat das Gegenteil. Voraussichtlich im Juni will er die neuen Abkommen, die er letztes Jahr mit der EU verhandelt hat, in die Vernehmlassung schicken. Dass das Stimmvolk am Ende über beide Geschäfte entscheiden kann, ist so gut wie sicher.
Das Timing der beiden Abstimmungen ist noch offen. Zurzeit deutet alles darauf hin, dass zuerst die SVP-Initiative an die Urne kommt. Was bedeutet es für das EU-Paket des Bundesrats, wenn sie angenommen wird? Ist es dann faktisch schon vom Tisch? In der Botschaft ist von «wichtigen Implikationen» die Rede, weitere Angaben aber fehlen.
Vor den Medien sagte Bundesrat Jans, die Annahme der Initiative stünde im Widerspruch zu den ausgehandelten Verträgen. Die Schweiz könnte zwar noch über das Paket abstimmen, die abschliessende Ratifizierung durch die EU aber wäre gefährdet. Sie werde in diesem Fall vermutlich «Anpassungen und Gegenleistungen» verlangen, so Jans. Konkreter wurde er nicht, zumal die Reaktion der EU nicht vorhersehbar sei.
Rein rechtlich wäre die Sache wohl nicht einmal so kompliziert. Mit der SVP-Initiative würde die Schweiz quasi einen vorbehaltenen Entscheid fällen. Erst wenn dieser wirksam wird – wenn die Schweiz also nach Erreichen des 10-Millionen-Deckels die Personenfreizügigkeit beenden muss –, gibt es einen handfesten Widerspruch. So gesehen könnte das Volk zuerst die Initiative der SVP annehmen und danach auch das Paket des Bundesrats. Möglich ist vieles, sicher nur eines: Die Schweiz steht vor einer zweifach heftigen Auseinandersetzung.