Amy und Ano sind zwei von zahlreichen Mädchen, die in Georgien ihren leiblichen Müttern entrissen und verkauft wurden. Eine Journalistin deckte den Jahrzehnte währenden Menschenhandel auf.
Zwei junge Frauen betreten ein Hotelzimmer in Leipzig. Die eine hat kurze blonde, die andere kurze schwarze Haare. Doch sonst gleichen sie sich auffallend stark. Dann schliesst eine Frau die beiden 21-Jährigen in die Arme und hält sie lange fest. Es ist das erste Mal, dass die eineiigen Zwillinge und ihre biologische Mutter sich sehen.
Die Geschichte der georgischen Zwillinge Amy und Ano macht derzeit Schlagzeilen. Sie haben erst über die sozialen Netzwerke voneinander erfahren. Hinter ihrer Geschichte verbirgt sich ein Skandal über die Praxis gestohlener und verkaufter Babys, in den über Jahrzehnte georgische Kliniken und Behörden verwickelt waren.
Amy war zwölf Jahre alt, als sie im Haus ihrer Grossmutter am Schwarzen Meer die Sendung «Georgia’s Got Talent» schaute. Dort trat ein Mädchen auf, das ihr sehr ähnlich sah. Bekannte, die die Show gesehen hatten, fragten Amys Mutter, warum das Mädchen unter einem anderen Namen in der Show auftrete. Doch Amys Mutter sagte nur lapidar, dass jeder irgendwo einen Doppelgänger habe.
Im November 2021 war es Amy, die auf Tiktok ein Video von sich hochlud, in dem sie ein neues Augenbrauenpiercing zeigt. In der georgischen Hauptstadt Tbilissi sah Ano das Video und war verblüfft über die absolute Ähnlichkeit. Es gelang ihr, Amy ausfindig zu machen. Diese wusste sofort, dass es sich bei Ano um das Mädchen handelte, welches sie sieben Jahre zuvor in der Talentshow im Fernsehen gesehen hatte.
Korrupte Behörden fälschten die Dokumente
Neben ihrer physischen Ähnlichkeit teilen die jungen Frauen Vorlieben wie das Tanzen, aber auch eine genetische Krankheit. Als sie ihre jeweiligen Familien konfrontierten, gaben diese zu, die Mädchen als Säuglinge adoptiert zu haben. Beiden Adoptivmüttern war erzählt worden, dass es ein ungewolltes Baby in einer örtlichen Klinik gebe. Man müsse nur die Ärzte bezahlen, dann dürfe man das Kind mit nach Hause nehmen. Laut ihren Geburtsurkunden waren sie 2002 beide im selben Spital im Westen Georgiens geboren worden, allerdings im Abstand von einigen Wochen.
Die Adoptiveltern wussten nicht, dass es sich um Zwillinge handelte, und geben an, nicht gewusst zu haben, dass es sich um eine illegale Praxis handelte. Georgien durchlebte nach dem Ende der Sowjetunion turbulente politische Zeiten und galt laut Transparency International zeitweise als eines der korruptesten Länder der Welt.
Nachdem sich die Zwillinge gefunden hatten, suchte Amy nach ihrer biologischen Mutter. In einer Facebook-Gruppe namens «Vedzeb» (georgisch für «Ich suche») fand sie Antworten.
Die georgische Journalistin Tamuna Museridze hatte «Vedzeb» 2021 gegründet, nachdem sie herausgefunden hatte, selbst adoptiert worden zu sein. Durch die Suche nach ihrer eigenen biologischen Familie stiess sie auf einen gewaltigen Babyhandel-Skandal. Er umspannte den Zeitraum von den 1950er Jahren bis zum Jahr 2005, als die Adoptionsgesetzgebung geändert wurde und kurz darauf schärfere Gesetze gegen Menschenhandel in Kraft traten. Die BBC hat zu dem Thema am Freitag die Dokumentation «Betrayal at birth» publiziert, die sich bereits Zehntausende angeschaut haben.
Laut Museridze müssen Leute aller gesellschaftliche Stufen in den Kinderhandel involviert gewesen sein, von Ärzten, Taxifahrern bis zu korrupten Behörden, die gefälschte Dokumente ausstellten. Der Kauf eines Babys kostete die Adoptiveltern rund einen Jahreslohn. Tamaridze fand heraus, dass Kinder auch an Familien in den USA und Kanada, nach Zypern, Russland oder in die Ukraine verkauft wurden.
Zehntausende Kinder sind mutmasslich betroffen. Der BBC sagte Museridze: «Das Ausmass ist unvorstellbar, es wurden bis zu 100 000 Babys gestohlen. Es war systemisch.»
Die Geschichten der Betroffenen – mittlerweile zählt die Gruppe über 230 000 Mitglieder – ähneln sich. Müttern wurde nach der Geburt erzählt, ihre Kinder seien gestorben. Wenn die Eltern insistierten, die Babys zu sehen, hiess es, diese seien direkt in Gräbern auf dem Spitalgrundstück beerdigt worden – obwohl es solche nicht gab. Manchen Eltern wurden tote Babys gezeigt, die in den Leichenhallen der Kliniken für solche Zwecke tiefgekühlt aufbewahrt wurden.
Im Koffer waren keine Babyknochen, sondern Äste
Gerade in Sowjetzeiten wurden die Behörden nicht hinterfragt, selbst wenn diese unglaubliche Geschichten auftischten. So glaubte auch Irina Otarashvili, die 1978 Zwillinge gebar, dass diese plötzlich im Spital gestorben seien. Ihr wurde ein Köfferchen überreicht mit angeblichen Überresten der Babys und der Anweisung, es nicht zu öffnen, sondern im Garten zu vergraben. 44 Jahre später, als Otarashvili auf die «Vedzeb» stiess, wurde ihr Misstrauen grösser. Sie grub den Koffer aus.
Sterbliche Überreste fand sie nicht, nur Äste von Weinreben. Seitdem geht Otarashvili davon aus, dass ihre Zwillinge noch am Leben sein könnten.
Vielleicht wird Otarashvili ihre Buben mithilfe von «Vedzeb» finden. Als Amy und Ano ihre Geschichte dort posteten, meldete sich eine junge Frau aus Deutschland. Ihrer Mutter, die nach der Geburt ins Koma gefallen sei, sei erzählt worden, ihre Zwillingsmädchen seien bei der Geburt 2002 gestorben. Doch sie zweifle diese Version an. DNA-Tests ergaben, dass es sich bei der jungen Frau um die Schwester von Amy und Ano handelte.
In Georgien harrt das Thema derweil der Aufarbeitung. Die Regierungen unternahmen mehrere Anläufe, den Kinderhandel zu untersuchen, doch ein öffentlicher Bericht dazu lässt auf sich warten. Die Journalistin Museridze will derweil mit einer Menschenrechtsanwältin Fälle von Betroffenen vor Gericht bringen, damit diese Zugang zu ihren wirklichen Geburtsdokumenten bekommen.
Nach ihren eigenen leiblichen Eltern sucht Tamuna Museridze weiterhin.