Floristik ist hier Kunst. Ihr Blumengeschäft ist eine Oase mitten in Manhattan. Bella Meyer schafft mit Pflanzen dreidimensionale, ephemere Kunstwerke. Ihre Kunden sind oft Museen und Theater.
Der Weg zu Bella führt durch einen Wald. Es riecht nach Holz, Moos und Blumen. Im Geäst hängt ein Kronleuchter. Auf einer Lichtung steht ein Tisch. Hinter Disteln ragt ein volles Bücherregal empor. Aussen ist innen, innen ist aussen. Dieser Wald liegt in einem Fabrikgebäude an der elften Strasse in Manhattan. Auf einem Schild beim Eingang steht: «fleursBELLA». Im langen, schmalen, etwa acht Meter hohen Raum hat es derart viele Blüten und Äste, darin versteckte Antiquitäten und Objekte, dass man kaum weiss, wo zuerst hinschauen.
Inmitten dieses Waldgartens strahlt und lacht Bella Meyer wie eine Sonnenblume von Takashi Murakami. «Jeder, der hier zum ersten Mal reinkommt, hält zunächst inne und staunt», sagt sie. Sie ist ein herzlicher und natürlich wirkender Mensch. Wegen ihrer leicht punkig aufstehenden, kurzen grauen Haare wird die 69-Jährige in New York gerne mit der Musikerin Laurie Anderson verwechselt.
Ihre Rebellion besteht regelmässig darin, dass sie jenen, die es am wenigsten erwarten, Blumen schenkt: Obdachlosen, wütend Dreinblickenden, traurigen Gesichtern in der U-Bahn. Dann geniesst sie den Moment der fassungslosen Überraschung und Freude.
Das Understatement liegt Bella Meyer. Eine Floristin sei sie nicht wirklich, sagt sie. Dafür wisse sie immer noch zu wenig über Blumen. Als Künstlerin würde sie sich ebenso wenig zu bezeichnen trauen. Und ihr Laden sei nicht wirklich ein Laden. «Am Anfang wusste ich nicht einmal, dass es ein Blumengeschäft werden würde.» Wie auch immer die beste Bezeichnung für diese Tätigkeit sei, Bella Meyer schafft mit Pflanzen dreidimensionale, ephemere Kunstwerke; ihre Auftraggeber sind oft Museen und Theater, die spezielle Arrangements für Galas oder Eröffnungen brauchen.
Marc Chagalls Blumensträusse
Blumen verbinden Bella Meyer mit ihrem Grossvater, dem Maler Marc Chagall. In dessen Bildern kommen Blumen häufig und prominent vor. Er habe stets Blumen um sich gebraucht, erzählt Bella Meyer: «Wir haben ihm bei jedem Besuch einen Strauss mitgebracht; ein kurzer Zwischenhalt bei einem Blumenstand auf dem Weg zu ihm nach Südfrankreich oder Paris war ein Ritual.»
Damals lebte sie mit ihrer Zwillingsschwester Meret und ihrem Bruder Piet in Basel, wo sie aufgewachsen ist. Ihr Vater war Franz Meyer, der damalige Direktor des Kunstmuseums Basel; ihre Mutter Ida war die einzige Tochter von Marc Chagall und Bella Rosenfeld, seiner ersten Frau, Muse und grossen Liebe. Die Enkelin Bella Meyer trägt den Namen der Grossmutter, die sie nicht mehr kennenlernen konnte.
Blumen sind für Bella wie Ölfarben für Maler. Sie promovierte in mittelalterlicher Kunstgeschichte an der Sorbonne in Paris, malte und zeichnete nebenbei von Kind auf. Zu Beginn ihrer Zeit in New York und als Mutter zweier Kinder habe sie mit bemalten Kostümen, etwa für Puppen, und Sets fürs Theater gearbeitet.
«Ich fand es aber immer schwierig, genau jene geheimnisvollen Farbtöne zu finden, die ich suchte. Irgendwann habe ich gemerkt, dass Blumen diese von mir gesuchten Farben haben, die ich mit Malen nicht erreichen kann.» fleursBELLA begann 2005 als Atelier von zu Hause aus, 2010 eröffnete Bella Meyer ihren Laden.
Wir sprechen abwechslungsweise Baseldeutsch, Hochdeutsch und Englisch – nach über vierzig Jahren in New York ist Englisch die ihr nächste Sprache. Mit einer vorbeikommenden Kundin redet sie fliessend Französisch. Im Hochdeutschen gestikuliert sie viel, sucht nach den richtigen Wörtern. Ihre Grosseltern waren noch mit Jiddisch aufgewachsen, sprachen aber miteinander Russisch.
Blumen werden unter den Händen von Bella Meyer zu Kunst.
Marc Chagall flüchtete 1941 vor den Nationalsozialisten nach New York, wo er mehrere Jahre verbrachte. Als seine Enkelin Bella Anfang der achtziger Jahre beschloss, nach New York zu ziehen, war er allerdings dagegen. So dankbar ihr Grossvater seinen Fluchthelfern des Emergency Rescue Committee und all jenen auch war, die ihn in den USA als Künstler unterstützten, so viele Ressentiments hegte er doch gegenüber einer Regierung, die zunächst widerwillig und langsam auf die Verfolgung von Juden reagiert hatte.
Vielen war damals die Einreise verwehrt worden, auch Anne Franks Familie. Ihre Grosseltern hätten zudem in den USA, vor allem während ihrer Aufenthalte auf dem Land, häufig Antisemitismus erleben müssen. Als 1944 Paris befreit wurde, war Bella Rosenfeld überglücklich; kurz darauf starb sie an einer Infektionskrankheit. «Amerika ist der Ort, an dem Grossvater seine Bella verloren hat», sagt Bella Meyer.
Umgekehrt wird ihr Grossvater heute von den meisten Amerikanern geliebt; gerade in New York ist er sehr präsent. Derzeit hängt etwa sein Gemälde «Paris durch das Fenster» im Guggenheim-Museum in einer Ausstellung über Orphismus, einer aus dem Kubismus entstandenen Kunstrichtung. In der Opera-Galerie fliegt eines von Chagalls Liebespaaren über seiner Heimatstadt Witebsk, ein Blumenstrauss schwebt über ihren Köpfen («Le Songe»).
Und im Grey-Art-Museum sitzt seine Bella in ein Buch vertieft an einem Tisch, vor ihr ein Strauss in einer Vase. «Dieses Bild hing lange bei meiner Mutter in Paris», sagt Bella Meyer. «Das hatte ich immer so gerne. Es hat diese Ruhe, die ich als Kind nicht finden konnte.»
Der bewunderte Grossvater
Hat Bella Meyer ein Problem damit, von vielen in erster Linie als Enkelin von Chagall identifiziert zu werden? «Nein, es macht mir immer Freude, wenn jemand von ihm weiss oder sein Werk gernhat.» Aber ihre zweite Reaktion sei: «Jetzt meinen diese Leute, dass ich genauso viel in die Welt bringe wie mein Grossvater. Die werden enttäuscht sein.»
Chagall ist ein Übergrossvater, aber ein liebender. Er habe ihr viel an Werten und Interessen mitgegeben: «Seine Kreativität, sein Einstehen für Freiheit, Offenheit, Respekt.» Zusammen mit ihrer in der Schweiz lebenden Zwillingsschwester Meret Meyer, die in Paris den Nachlass betreue und dafür «unglaublich viel Arbeit leistet», ist es Bella ein Anliegen, dass noch mehr Menschen von den Werken Chagalls erfahren.
Beide Schwestern werden weltweit zu Ausstellungen eingeladen. Auch nach Witebsk, dem Städtchen im heutigen Weissrussland, in dem ihr Grossvater 1887 geboren wurde. Dort ist Chagalls Elternhaus zu einem ihm gewidmeten Museum umfunktioniert worden. Bella besuchte es in den neunziger Jahren zum ersten Mal: «Als ich auf dem Weg dahin durch Wälder und Dörfer fuhr, hatte ich das Gefühl, alles schon zu kennen. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben wäre und ich durch die Bilder meines Grossvaters reiste.»
Hinter Disteln ein volles Bücherregal. Bella Meyer bedient sich der Blumen wie ihr Grossvater Marc Chagall einst der Farben.
Chagall habe immer alles berühren müssen, die Farben, mit denen er gemalt habe, die Hände seiner Enkel, ihre Gesichter, sagt Bella Meyer. «Es war, als ob er uns berühren müsse, um sich zu versichern, dass es uns gibt.» Sie habe ihn sehr geliebt und bewundert. Eine Art ehrfürchtiger Scheu befiel sie aber in seiner Präsenz. Eines ihrer grössten Bedauern: «Ich wünschte, ich hätte mich getraut, ihm mehr Fragen zu stellen darüber, was er denkt und fühlt. Aber ich hatte wenig Selbstbewusstsein und traute mich nicht.»
Sie sei auch sehr taktil, sagt Bella Meyer und streicht jetzt mit der Hand über Blüten und Zweige. Eine Kundin braucht schnell einen Strauss; Bella stellt ihn mit wenigen Griffen zusammen. Auf einem unscheinbaren Schild vor dem Laden steht: «Workshop and accidental retail.» Der Blumenverkauf ist hier ein glückliches Versehen.