Die Tessiner Skirennfahrerin machte selbst in ihrer 17. Saison im Weltcup noch neue Erfahrungen: vom schmerzhaften Rückzug bis zum nie erlebten Team-Gefühl. Einen letzten Winter hat sie noch vor sich.
Als Lara Gut-Behrami vor einem Jahr vom Weltcup-Finale abreiste, war sie wütend, traurig und leer. Zwar hatte sie zum zweiten Mal in ihrer Karriere den Gesamt-Weltcup gewonnen. Doch die Art und Weise des Abgangs ihres Trainers Alejo Hervas zur Männergruppe um Marco Odermatt hinter ihrem Rücken hatte sie verletzt. Sie wollte weg und vom Skifahren erst einmal nichts mehr wissen, wie sie später erzählte.
Was für ein anderes Bild in diesem Jahr. Beim Saisonfinale in Sun Valley im US-Staat Idaho kann sich Gut-Behrami innig über den sportlichen Erfolg freuen: Am Dienstagabend gewinnt sie im Riesenslalom ihr letztes Rennen der Saison, es ist gleichzeitig der 100. Podestplatz ihrer Karriere und der zehnte Sieg in einem Riesenslalom-Weltcup. Das macht sie zur ersten Fahrerin, die in drei Disziplinen mehr als zehn Siege vorweisen kann.
Bereits am Wochenende hatte Gut-Behrami im Super-G in Sun Valley triumphiert, mit einer der stärksten Fahrten ihres Lebens. Danach nahm sie, bereits zum sechsten Mal, strahlend die kleine Kristallkugel für die Disziplinenwertung entgegen – auch das ist Rekord, bei den Frauen wie bei den Männern. Die Weltcup-Siege Nummer 46 bis 48 hievten Gut-Behrami zudem auf Rang fünf der erfolgreichsten Skifahrerinnen der Geschichte.
Die Zahlen verdeutlichen einmal mehr, wie lange die 33-Jährige schon auf höchstem Level Ski fährt. Und doch liegt zwischen den beiden Weltcup-Finals ein Jahr, das selbst für die routinierte Athletin neue Erfahrungen bereithielt. Sie wirkte mal nachdenklich, hatte mal die Ruhe einer Athletin, die sich nach vielen Jahren selbst gefunden hat und weiss, dass es da noch anderes neben dem Sport gibt. Das Skifahren sei heute ein Dürfen, kein Müssen, sagte sie einmal. Und gleichzeitig war ebenso deutlich, dass Gut-Behrami weit davon entfernt ist, einfach noch mitfahren zu wollen. Das spürte man zum Beispiel an einer gewissen Ungeduld, als sie bis Ende Januar auf den ersten Saisonsieg warten musste. Oft schlich sich irgendwo ein Fehler ein, selten ging alles von oben bis unten auf.
Nach der Enttäuschung mit dem Trainer im Frühling 2024 hatte es eine Weile gedauert, bis Gut-Behrami wieder Lust am Training hatte. Doch für den Trainerposten fand sich mit Flavio Di Giorgio rasch eine gute Lösung; der Italiener war auch schon der Konditionstrainer von Sofia Goggia.
Gut-Behrami schätzte es, den Aufbau im Sommer mehrheitlich in ihrer Wahlheimat Italien und im Tessin zu absolvieren. Die neuen Ansätze und Übungen taten ihrem Körper wie Geist gut, das Skifahren machte ihr wieder Spass – und plötzlich war der Gedanke da, dass sie doch bis zu den Olympischen Spielen 2026 weiterfahren könnte. Zuvor hatte sie sich nicht vorstellen können, die Energie dafür aufzubringen.
Die letzte Sicherheit fehlte vor dem Saisonstart
Die Freude wurde in der Saisonvorbereitung getrübt, als Gut-Behrami im Training in Chile einen Schlag aufs linke Knie erlitt, das sie seit dem Kreuzbandriss 2017 immer wieder gespürt hatte. Sie reduzierte danach das Training, machte sich Sorgen. Ein MRI zeigte, dass nichts kaputt war, das Knie sah noch genauso aus wie zuvor. Das weiss sie so genau, weil «eine Ski-Karriere eine Aneinanderreihung von MRI-Untersuchungen» sei, wie sie vor dem Saisonstart scherzte. Dennoch warf sie der Vorfall zurück – sie konnte die letzte Unsicherheit im Training nicht ausblenden.
Das führte zu einem bemerkenswerten Auftritt zum Saisonstart. In Sölden zog sie sich kurz vor dem Riesenslalom zurück. Dem Schweizer Fernsehen sagte sie mit Tränen in den Augen: «Es fühlt sich nicht hundertprozentig richtig an. Ich will nicht stürzen und mich verletzen. Ich dachte aber nicht, dass es mir so schwer fallen würde, auf ein Rennen zu verzichten.» Sie hatte schon einmal einen Riesenslalom nach wenigen Toren abgebrochen. Doch aufgrund eines Gefühls gar nicht anzutreten, das haben im Weltcup erst wenige gemacht. Gut-Behrami wollte nicht, dass eine allfällige Verletzung das Ende ihrer Karriere bestimmte.
Valon Behrami nahm ihr «die Last von den Schultern»
Als sie ein paar Monate später an den Sports Awards zum dritten Mal als Sportlerin des Jahres ausgezeichnet wurde, sagte sie abermals sehr offen, wie sehr sie der Verzicht beschäftigt habe. Ihr Ehemann, der frühere Fussballer Valon Behrami, half ihr, damit umzugehen. «Er hat mir zu verstehen gegeben, dass es solche Tage gibt – auch als Spitzensportler. Das nahm mir die Last von den Schultern.»
Im Februar folgte an ihren neunten Weltmeisterschaften noch eine Premiere. Eigentlich wollte Gut-Behrami die Zeit zwischen den Speed-Rennen und dem Riesenslalom zum Trainieren nutzen. Als sie im Super-G und in der Abfahrt jedoch ohne Medaille blieb und die Chance stieg, dass das an ihren letzten WM so bleiben würde, ging sie auf Swiss Ski zu und fragte, ob sie nicht doch die Team-Kombination mitfahren könne.
Gemeinsam mit Wendy Holdener errang sie in dem neuen Format Silber, Gut-Behrami hatte ihre neunte Medaille aus sechs Weltmeisterschaften auf sicher. Und entdeckte dabei gegen Ende ihrer Karriere noch die Freuden des Teamsports. Nach dem Wettkampf zeigte sie sich überrascht davon, wie gross der Unterschied zu einem normalen Rennen für sie war. «Ansonsten trägst du die Verantwortung immer auf deinen Schultern. Es ist immer deine Schuld, ob es gut geht oder schlecht», sagte sie, und dankte Holdener für die Erfahrung, dass es auch anders sein kann. Am Ende der WM wurde sie fast ein wenig melancholisch, als sie auf ihre «unglaubliche Reise» zurückblickte, aus der «mehr Emotionen bleiben werden als jene der Siege».
Nun also noch eine Saison, dann ist Schluss. Vielleicht ist bis dann ein weiteres bemerkenswertes Detail aus dem vergangenen Winter gelöst: Nach zwölf Jahren mit dem Ragusa-Logo auf der Stirn trat Gut-Behrami ohne Kopfsponsor an. Man hatte sich für einen neuen Vertrag wohl nicht mehr gefunden. Am liebsten würde sie sich mit einem neuen Sponsor für die nächste Generation engagieren. Denn wenn sich an den Olympischen Spielen in Mailand 2026 ein Kreis schliesst, hat das auch mit der Nachwuchsfahrerin Lara Gut zu tun: Als in Italien 2006 letztmals Winterspiele veranstaltet wurden, war sie mit ihrer Familie als Zuschauerin dabei, hat als 14-Jährige die Atmosphäre aufgesogen und gewusst: «Das will ich auch.»