Bisher hat sie sich als Singer-Songwriterin profiliert. Nun versucht sich Sophie Hunger auch als Schriftstellerin. Im Debütroman «Walzer für Niemand» schildert sie die Krämpfe des Erwachsenwerdens.
Geschichten mag sie gar nicht. Die Ich-Erzählerin in Sophie Hungers Romandebüt «Walzer für Niemand» hält Geschichten für eine «ekelerregende und erstickende Erfahrung». Sie stört sich an den Zwängen narrativer Logik: Ein «schauriges Gefühl» erfasst sie, wenn jemand rote Fäden spannt. Denn wo bleibt zwischen Anfang und Ende dann noch Raum für freie, schweifende Gedanken?
Umso mehr zieht es sie hin zur Musik und insbesondere zu Songs. Im Vergleich mit Geschichten scheinen diese den Vorteil zu haben, dass man sie sich immer wieder anhören kann, um dabei dem Kontinuum der Zeit ein Schnippchen zu schlagen.
Der Lautsprecher singt
Die Beobachtung eines Tonarms, dessen Nadel sich auf die Rille einer Vinyl-Schallplatte absetzt, beschreibt die Erzählerin als eine Art Initiation in die Welt der Magie und Phantasie. Zumal sie den Gesang, der in der Folge aus dem Lautsprecher dringt, als Kind einst als mystischen Zauber empfand. Erst später realisierte sie, dass es sich um menschliche Stimmen handelte.
Dass die Musik auf solche Weise gerühmt und verklärt wird, mag nicht erstaunen. Immerhin kannte man Sophie Hunger bisher als Sängerin und Songwriterin. Und der Romantitel geht auf einen ihrer Songtitel zurück. Die Versuchung liegt nahe, die Erzählerin mit Sophie Hunger selbst zu identifizieren. Und obwohl im Buch warnend auf den fiktionalen Charakter des Romans hingewiesen wird, gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen der Schriftstellerin und ihrer Protagonistin: Beide haben sie Eltern in diplomatischen Funktionen, beide lebten erst im Ausland, später in Bern und Zürich, und beide profilieren sich als Sängerinnen.
Interessanter aber als die biografischen Koinzidenzen sind die Auswirkungen der Musikalität auf Sophie Hungers Schreibstil. Die Erzählerin, die Geschichten derart verabscheut, nimmt sich wie eine bald verträumte, bald konzentrierte Rhapsodin aus. Sie überlässt sich dem Wellengang ihrer Erinnerungen, der Anekdoten, Erlebnisse und Wünsche an den Tag bringt. Der Roman führt so in leichten Mäandern durch das frühe Leben der Erzählerin – von Kindergarten und Schule über die Pubertät bis hin zu den ersten Konzerten als Sängerin.
Als zentral erweisen sich dabei Leitmotive, die förmlich aus der Handlung wachsen und für eine exemplarische Dringlichkeit sorgen in diesem Coming-of-Age-Roman. Das gilt insbesondere für den Gegensatz von Scham und Stolz. Die Adoleszenz wird hier durch Wechselfälle geistiger Erfolge und physischer Schwächen charakterisiert.
Auf dem Schoss der Kindergärtnerin
Bereits im Kindergarten haben Scham und Stolz um die Vorherrschaft ihrer Seele gekämpft. In einer lebendigen Episode erinnert sich die Erzählerin, wie sie für eine gescheite Bemerkung einst dadurch belohnt wurde, dass sie sich auf den Schoss der Kindergärtnerin setzen durfte. Doch im Moment des Triumphes erlebte sie ein Unglück. Denn während die Kindergärtnerin ein Märchen vorlas, spürte das Mädchen, privilegiert, aber gefangen, wie ihm der feuchte Kot in den Faltenjupe rutschte.
Auch später beim schulischen Turnunterricht werden Körper und Intimität zum Thema. Um nicht zu schwitzen, erklärt die Erzählerin, habe sie sich absichtlich stets «langsam und energiesparend» bewegt. Beim schulischen Schlittschuhlaufen verhielt sie sich ähnlich: Ein einziges Mal stiess sie sich ab auf den Kufen, um nach kurzem Gleiten bald im Stillstand zu verharren; zuletzt wird sie am Schal einer Mitschülerin zurück an den Rand des Eisfelds geschleppt.
In solchen Szenen lässt die Erzählerin einen subversiven Geist und anarchischen Witz aufblitzen, die für die originellsten Passagen des Romans sorgen und überdies für die Autorin selbst charakteristisch sind.
Sophie Hunger hat sich als Musikerin durch den Kommerz so wenig bedrängen lassen wie durch die Erwartungen ihrer Fans. Sie passte auch nie ins Klischee einer aktivistischen Folksängerin. Und doch erhebt sie stets ihre Stimme, wenn sie es angebracht findet: wie 2018 , als sie sich öffentlich dagegen wehrte, dass die Deutsch-Rapper Kollegah und Farid Bang nach antisemitischen Entgleisungen einen Echo-Award gewannen.
In «Walzer für Niemand» versucht auch die Erzählerin immer wieder, Autoritäten zu enttäuschen und Erwartungen zu unterlaufen. Am Ende der Schulzeit kann sie sich dann nicht vorstellen, eine berufliche Laufbahn einzuschlagen und sich auf ein bürgerliches Leben einzulassen. Der Abscheu gegen Geschichten manifestiert sich nun auch im Misstrauen gegen Karrieren und fixe Lebensentwürfe. Eine provisorische Freiheit bietet ihr einzig die Musik.
Damit scheint sich ein Kreis zu schliessen, Sophie Hungers Roman wirkt inhaltlich einigermassen konsistent. Allerdings krankt er an formalen Ambitionen. Ähnlich wie Sophie Hunger im Song «Walzer für Niemand» richtet sich auch die Erzählerin an ein Du. Dabei handelt es sich um einen anonymen Lebensgenossen. Der Partner bleibt jedoch so blass, dass man annehmen muss, Sophie Hunger habe ihn bloss erfunden, um nicht auf die erste Person Singular beschränkt zu sein.
Dieses Du aber wird plötzlich zur pseudoethnologischen Instanz hypostasiert. Auf der Suche nach den Wurzeln der Erzählerin ist es bei den Walserinnen gelandet, deren Leben und Lebensraum es nun akribisch erforscht hat. Der eigentliche Roman wird deshalb mit Texten gespickt, die sich in ihrem szientistisch-parodistischen Gestus bisweilen als witziges Sprachspiel erweisen («Das Walser Wort für Schnee ist ‹Aschi›, die Asche. Es spiegelt die Vorstellung wider, der Schnee sei kremierter Himmel»). Der Sog des Romans wird dadurch aber immer wieder gebremst.
Triumph auf der Bühne
Einmal erinnert sich die Erzählerin an eine «prätentiöse Formulierungssucht», mit der sie einst ihren Mangel an Wissen und Weisheit zu verbergen versucht habe. Ganz überwunden sind die sprachlichen Prätentionen nicht, es gibt dafür einige Beispiele in «Walzer für Niemand». Etwa wenn die Folgen der Monatsblutungen interpretiert werden: «Kreise wurden zum phänomenologischen Prinzip der Wahrnehmung und zur geometrischen Hauptfigur des eigenen Konstruktivismus.»
Zumeist aber lebt Sophie Hungers überzeugendes Romandebüt von einfachen und klaren Formulierungen, die sie eigenen Erfahrungen verdankt. Wenn sich die Erzählerin vor der Bühne scheut, denkt sie an den Zehn-Meter-Sprungturm. Einen Schritt muss man selber machen, den Rest übernimmt die Schwerkraft. Ähnlich lohnt es sich, das Lampenfieber zu überwinden und die Stimme zu erheben. Denn: «Während der Dauer des Konzerts schien ich Herrscherin über Raum und Zeit zu sein.»
Sophie Hunger: Walzer für Niemand. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 192 S., Fr. 33.90.