Wie unter dem Brennglas zeigen sich bei der Bahn die Probleme der deutschen Infrastruktur besonders drastisch. An ihr wird dereinst auch zu messen sein, ob das «Sondervermögen Infrastruktur» mehr gebracht hat als gigantische Schulden und steigende Preise.
Nichts illustriert den maroden Zustand der deutschen Infrastruktur besser als die Deutsche Bahn (DB). Es gibt kaum jemanden im Lande, der keine selbsterlebten Leidensgeschichten zu erzählen hat über hoffnungslos überfüllte, massiv verspätete oder ganz ausfallende Fernzüge, über verstopfte Toiletten und verpasste Anschlüsse.
Umso mehr wird die Bahn nun zum Lackmustest für das Vorhaben der künftigen Regierung, mit gigantischen neuen Schulden die Infrastruktur auf Vordermann zu bringen. Auf Basis einer letzte Woche beschlossenen Grundgesetzänderung kann Deutschland während 12 Jahren neue Schulden von bis zu 500 Milliarden Euro aufnehmen, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden. Das Konstrukt wird euphemistisch als «Sondervermögen» bezeichnet. Die Gelder dürfen ausschliesslich für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und zur Erreichung der Klimaneutralität verwendet werden.
Zu spät, zu störanfällig
Wer den Geldsegen empfangen soll, ist erst vage umrissen, doch die Schiene wird zu den Adressaten gehören.
Wie schlecht die Bahn funktioniert, lässt sich an einer einzigen Zahl illustrieren: 2024 kamen lediglich 62,5 Prozent der DB-Fernzüge pünktlich an, womit der Wert einen langjährigen Tiefpunkt erreicht hat.
Richard Lutz, der Vorstandsvorsitzende des DB-Konzerns, sagte an der Bilanzpressekonferenz vom Donnerstag, die Bahn befinde sich «in der grössten Krise seit 30 Jahren». Mit dem 2024 aufgesetzten «Gesamtprogramm zur strukturellen Sanierung des Konzerns» (S3) habe man gemeinsam mit dem Bund die Weichen zur Überwindung dieser Krise gestellt. Laut dem Sanierungsprogramm soll bis 2027 die Pünktlichkeit der Fernzüge schrittweise auf 75 bis 80 Prozent steigen. Zudem sollen im Vergleich zu 2024 rund 10 000 Vollzeitstellen vor allem in der Verwaltung abgebaut werden. Schon 2025 will der Konzern operativ schwarze Zahlen schreiben, nachdem er 2024 erneut mit einem Betriebsverlust abgeschlossen hat.
Rote Zahlen im Geschäftsjahr 2024
Die Deutsche Bahn, eine Aktiengesellschaft in Staatseigentum, hat 2024 bei einem Konzernumsatz von 26,2 Milliarden Euro (+0,4 Prozent) einen operativen Verlust (bereinigter Ebit) von 333 Millionen Euro erzielt. Im Vergleich zum Vorjahr wurde der Betriebsverlust auch dank Ausgleichszahlungen des Bundes für Instandhaltungsmassnahmen um rund 1,8 Milliarden Euro reduziert. Der Jahresverlust nach Zinsen und Steuern betrug 1,77 Milliarden Euro (2023: 2,7 Milliarden Euro). Alle Zahlen beziehen sich auf die DB ohne die vor dem Verkauf stehende Logistiktochter DB Schenker und die letztes Jahr verkaufte europäische Nahverkehrstochter DB Arriva. Per Ende Jahr beschäftigte der Konzern 225 560 Mitarbeiter (Vollzeitstellen), die Nettofinanzschulden betrugen 32,6 Milliarden Euro.
Für Lutz ist klar: Das Hauptproblem ist die Infrastruktur. Sie sei zu alt und zu störanfällig, weil sie «über Jahre und Jahrzehnte kaputtgespart» worden sei und zugleich der Verkehr zugenommen habe.
Die Generalsanierung hat begonnen
Um Abhilfe zu schaffen, hat die DB letztes Jahr mit der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim eine Generalsanierung der Hochleistungskorridore eingeleitet. Sie soll ab August mit der Strecke Berlin–Hamburg fortgesetzt werden und insgesamt rund 40 Strecken erfassen. Dabei folgt die Bahn einem neuen Konzept: Statt immer wieder einzelne Bauarbeiten «unter dem rollenden Rad» durchzuführen, werden die Strecken während Monaten für den Verkehr gesperrt, und die Infrastruktur wird von den Geleisen über die Weichen bis zu den Bahnhöfen «generalsaniert». Danach soll für Jahre Ruhe sein.
Lutz lobte die bei der Riedbahn erreichten Verbesserungen über den grünen Klee. Doch sein Finanzchef Levin Holle räumte ein, dass sich die Gesamtkosten für dieses eine Projekt auf 1,5 Milliarden Euro statt der letztes Jahr kommunizierten 1,3 Milliarden Euro erhöht hätten.
Dass die Infrastruktur eines der Kernprobleme ist und die Bahn unterfinanziert war, bestätigen auch externe Fachleute. Obwohl die Ampelregierung eine Erhöhung der Mittel eingeleitet hat, lag Deutschland bei den Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur laut einer Zusammenstellung der Allianz pro Schiene 2023 im internationalen Vergleich noch immer im hinteren Feld.
Vor diesem Hintergrund begrüsste Lutz das «Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität». Wie viel Mittel daraus in den zwölf Jahren in die Schiene fliessen werden, ist noch nicht klar. In einem vorläufigen Einigungspapier der voraussichtlichen Koalitionäre Union und SPD heisst es lediglich, die Investitionen in das Schienennetz würden gesteigert. Aus dem Sondervermögen finanziert werden soll unter anderem die Sanierung der Hochleistungskorridore.
Laut Lutz besteht für Massnahmen im Bestandsnetz, darunter die Generalsanierungen und kleinere Massnahmen, ein zusätzlicher Bedarf ausserhalb des Regelhaushalts von mindestens 80 Milliarden Euro. Für eine Realisierung aller Aus- und Neubauprojekte sowie einer beschleunigten und ausgeweiteten Digitalisierung wären zusammen mit den Mitteln für den Bestand insgesamt etwa 150 Milliarden Euro nötig.
Ein «Bürokratieinfarkt»
Geld allein dürfte allerdings zu einer nachhaltigen Sanierung nicht ausreichen. Alexander Eisenkopf, Professor für Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, erklärt auf Anfrage, er halte das «Sondervermögen» zwar «grundsätzlich für eine fatale wirtschaftspolitische Weichenstellung». Aber da es nun einmal da sei, sei es besonders wichtig, sich Gedanken über eine sinnvolle Verwendung zu machen. Die Verbesserung der Schieneninfrastruktur sei ein sehr relevanter Ansatzpunkt, doch sollte man auch Strasse und Binnenschifffahrt nicht vergessen.
Zudem müssten dringend Planungsprozesse entzerrt und entschlackt werden: «Der gesamte Verkehrsinfrastruktursektor leidet an einem Regulierungs- und Bürokratieinfarkt», meint Eisenkopf. Auch Wirtschaftsverbände und private Konkurrenten der DB monieren die Intransparenz des verschachtelten Konzerns und die bürokratischen Strukturen.
Verbände wie Mofair, die Lobby der privaten Konkurrenten der DB im Schienenpersonenverkehr, fordern in diesem Zusammenhang seit langem die Entflechtung des Konzerns: Der Monopolbereich, bestehend aus dem Schienen- und dem Bahnstromnetz sowie den Bahnhöfen, solle in eine Schieneninfrastrukturgesellschaft ausgelagert werden, die direkt dem Eigentümer, dem Bund, unterstellt sei. Per Anfang 2024 hat die DB diese Bereiche in der DB InfraGo zusammengefasst, die zwar «gemeinwohlorientiert» ist, aber als 100-prozentige Tochter im Konzern geblieben ist.
Entflechtung vom Tisch?
Von einer vollständigen Trennung erhofft sich Mofair unter anderem mehr Transparenz und einen faireren Wettbewerb zwischen den privaten Anbietern, die auf diese Infrastruktur angewiesen sind, und den DB-Töchtern, die als Betreiber von Fern-, Regional- und Güterverkehr ihre direkten Konkurrenten sind. Die Forderung ist in der Vergangenheit unter anderem von der Monopolkommission, der FDP und zeitweise auch von der Union unterstützt worden.
Politisch scheint sie aber vom Tisch zu sein: Im erwähnten vorläufigen Einigungspapier heisst es, man werde «die DB InfraGo vom DB Konzern weiter entflechten innerhalb des integrierten Konzerns». Die SPD hat eine vollständige Entflechtung stets abgelehnt, ebenso wie die DB selbst: «Debatten über die Trennung von Netz und Betrieb können wir uns nicht leisten. Das kostet nur Zeit und lenkt ab», bekräftigte Lutz am Donnerstag.
Gleichwohl könnte auch sein eigener Job gefährdet sein: Die Unterhändler von Union und SPD stellen in ihrem Papier eine Neuaufstellung von Aufsichtsrat und Vorstand sowohl beim DB-Konzern als auch bei der InfraGo in Aussicht mit dem Ziel, «mehr Fachkompetenz abzubilden und eine Verschlankung zu erreichen».
Es fehlen Kapazitäten
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Sanierung der Infrastruktur sind begrenzte Kapazitäten. «Es ist völlig klar, dass sich bei so viel ausgelobtem Geld die erheblichen Preissteigerungen der letzten Jahre auch in Zukunft fortsetzen werden», ist Eisenkopf überzeugt. Die Kapazitäten in der Planung und für die Umsetzung liessen sich nicht kurzfristig erhöhen, und Knappheit an qualifiziertem Personal und Material treibe die Kosten.
Auch Lutz räumt Preisdruck ein, wenn man zusätzliche Nachfrage auf knappe Kapazitäten der Bauindustrie lenke. Doch sei das «Sondervermögen» Teil der Lösung: Es könne der Bahn- und Bauindustrie das Signal geben, zusätzliche Kapazitäten aufzubauen.
Tatsächlich gehört die Forderung nach einer Verstetigung der Investitionen und mehrjähriger Planungssicherheit zu den wenigen Punkten, über die sich fast alle Akteure einig sind. Ebenso klar ist: Selbst unter den besten Bedingungen wird es dauern, bis man in Deutschland die Uhr wieder nach der Bahn stellen kann, wie es der scheidende Verkehrsminister Volker Wissing 2022 in Aussicht gestellt hat.
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