Die Polen verschärfen ihre Asylpolitik. In Europa aber fehlt eine ernsthafte Initiative, um das dysfunktionale Asylsystem zu beheben. Im Eifer der Aufrüstung geht das unliebsame Thema unter. Das könnte sich rächen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat am Mittwoch einen Erlass unterschrieben, um das Asylrecht an der Grenze zu Weissrussland ab sofort einzuschränken. Die Regelung gilt für 60 Tage, kann aber verlängert werden. Seit einigen Jahren sieht sich Polen mit dem Problem konfrontiert, dass die autokratischen Nachbarn – Weissrussland und Russland – Flüchtlinge benutzen, um das Land zu destabilisieren.
Menschenrechtsorganisationen verurteilen die polnische Härte und listen verschiedene Rechtsverstösse auf. Die Europäische Union hingegen ist erstaunlich konstruktiv. Im vergangenen Jahr hielt man fest, dass Mitgliedstaaten «alles Notwendige» tun dürften, um sich gegen «hybride Angriffe Russlands und Weissrusslands zu verteidigen».
Das heisst, wenn Asylsuchende als Waffen feindlicher Staaten eingestuft werden können, gibt es einen grossen Spielraum, diese Form der Migration zu unterbinden. Das ist wichtig, andernfalls würden sich die Europäer moralisch erpressbar machen. Gleichzeitig ist auch klar, wer die Verlierer dieser Politik sind: Asylsuchende, die, als Kriegsinstrumente missbraucht, entlang von Zäunen festsitzen.
So wird an der 400 Kilometer langen polnisch-weissrussischen Grenze offenbar, wie eine humanitäre Politik mit dem Schutz der nationalen Souveränität kaum in Einklang zu bringen ist. Die Situation in Polen mag ein Extremfall sein, da hier die Russen die Flüchtlinge in destruktiver Weise orchestrieren. Das Dilemma aber, einem humanitären Anspruch und den eigenen Interessen gerecht zu werden, ist die asylpolitische Normalität.
Der Schlaf der Gerechten
Das Jahr 2015 steht für die asylpolitische Grosszügigkeit Europas. Seither sind Illusionen geplatzt: Nicht nur zeigte sich die Überforderung vieler europäischer Staaten, Asylsuchende aufzunehmen und zu integrieren. Es wurde auch die Dysfunktionalität des Dublin-Systems offenbar. Die Regelungen sehen vor, dass für die Abwicklung eines Asylverfahrens der europäische Staat zuständig ist, den ein Asylsuchender als ersten betritt. Mit den offenen Binnengrenzen in Europa ist Dublin aber weitgehend untauglich. Migrationskritische, rechte Parteien haben in den vergangenen Jahren auch wegen des asylpolitischen Chaos stark zugelegt. Die EU versucht den Problemen und dem Unbehagen in der Bevölkerung mit einer Asylreform entgegenzuwirken, doch schon jetzt sind die Zweifel berechtigt, dass sich etwas grundlegend ändert.
Die Migrationsfrage scheint zurzeit ohnehin nachrangig zu sein. Die Europäer sind vielmehr im Kriegsfieber. Lange schliefen sie den Schlaf der Gerechten, nun sind sie plötzlich aufgeschreckt: von den Russen, von der Möglichkeit, die Amerikaner könnten sie verlassen. Nun will Europa 800 Milliarden Euro mobilisieren, um sich bis 2030 selbst verteidigen zu können. Das ist vernünftig und klingt frivol zugleich, wenn man etwa an die Aussagen des wahrscheinlichen künftigen deutschen Kanzlers denkt. Russland führe einen Krieg gegen Europa, gegen Deutschland, und zwar jeden Tag, sagt Friedrich Merz. In fünf Jahren also will man dann wehrbereit sein.
Deutsche Kraftanstrengungen
Immerhin gibt es in der Verteidigungspolitik ein klares, europäisches Ziel. In der Asylpolitik hingegen bleibt vieles vage. Innenpolitisch wird dieses Thema in den kommenden Jahren aber ganz entscheidend sein, vor allem in Deutschland. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel hat 2017 eine «nationale Kraftanstrengung» bei den Ausschaffungen angekündigt, ihr Nachfolger Olaf Scholz sagte: «Wir müssen endlich im grossen Stil abschieben.»
Friedrich Merz wiederum verspricht eine asylpolitische Wende. Unter dem Eindruck eines brutalen Messerangriffs in Aschaffenburg im Januar sagte er sogar: «Kompromisse sind zu diesem Thema nicht mehr möglich.» Bisher hat Merz in den Verhandlungen mit den Sozialdemokraten über eine neue Regierung grosse Kompromisse gemacht, es würde erstaunen, wenn er hier nicht auch weich würde.
Angegriffene Ideale
Der Asylrechtsexperte Daniel Thym sagte kürzlich im «Spiegel», es brauche nun einen Systemwechsel, sonst verlöre die Bevölkerung den Glauben an das Asylrecht. Konkret: «Wir müssen die Menschenrechte weniger streng handhaben. Notfalls, indem die EU-Verträge und die Europäische Menschenrechtskonvention verändert werden.» Nach Terroranschlägen, Messerattacken und einer Häufung von Sexualdelikten kommt die Geduld der Bevölkerung an ein Ende. Viele Menschen sind nicht mehr bereit, asylpolitische Ideale bis zur Selbstgefährdung mitzutragen.
Die Europäer haben sich daran gewöhnt, dass Staaten wie die Türkei oder Libyen für sie die Drecksarbeit machen. Die Skrupel halten sich in Grenzen. Sie haben sich auch daran gewöhnt, dass Ausschaffungen nicht vollzogen werden. Wie bei der Verteidigung werden sie aber auch hier lernen müssen, sich selbst darum zu kümmern. Wenn es gilt, die europäischen Interessen wahrzunehmen, können sie sich im Zweifel auch nicht hinter angeblich unabänderlichen Rechten verbarrikadieren.
Schaffen sie es nicht, übernehmen rechtspopulistische Parteien ihren Job. Und es werden dann auch ihre oft russophilen Politiker sein, die die Zukunft der europäischen Verteidigungspolitik gestalten.