Glenstone Museum, Potomac, Maryland
© Jeff Wall
Mit seinen riesigen Leuchtkästen hat Jeff Wall die Fotokunst revolutioniert. Dem kanadischen Grossmeister der inszenierten Fotografie widmet die Fondation Beyeler in Basel eine umfassende Retrospektive.
Wer stopft noch Socken? Das Holz-Ei im mütterlichen Nähkästchen hat seine Funktion längst eingebüsst. Wofür es einmal stand, hat man schon fast vergessen. Als Socken noch gestopft wurden, wurde es in das defekte Stück hineingesteckt, wo es als Unterlage für die Reparaturarbeit mit Nadel und Faden diente. An der Ferse durchgewetzte Socken gehen heute aber in den Müll, und man besorgt sich ein Multipack neuer Exemplare. Oder würde sich der Zeitaufwand doch lohnen? Nein, fürs Sockenstopfen haben wir keine Zeit. Ausser vielleicht Jeff Wall, der kanadische Fotokünstler, der in seinen grossen Bildern gerne das tut, was wir alle ab und zu tun möchten, wenn es denn möglich wäre: die Zeit zum Stillstand bringen.
Wie aus der Zeit gefallen wirkt seine Fotografie «Mending». Eine alte, ergraute Frau sitzt würdevoll in einem dunklen Kabinett, von Bücherregalen umgeben. Sie trägt ein schlichtes grünes Kleid und ist dabei, eine lilafarbene Socke zu flicken. Jeff Wall hat die Szene doppelt eingefroren in diesem sorgfältig inszenierten Bild. Er zeigt die Frau reglos dasitzend, in dem Moment, in dem sie sich anschickt, die Socke auf ihrem Schoss zu bearbeiten. Aber sie tut es nicht. Sie hält inne. Sie denkt lediglich darüber nach, ob sie es wirklich tun soll.
Das Bild strahlt eine Atmosphäre der Kontemplation aus – des Nachdenkens. Es sei «ein Denkmal für die Ungewissheit, insbesondere im Hinblick darauf, ob wir fähig und willens sind, etwas Abgetragenes, Verschlissenes oder Beschädigtes auszubessern», schreibt der Künstler selber zu diesem Werk. Nehmen wir uns kaputter Gebrauchsgegenstände an, tun wir es heute kaum mehr aus materieller Not oder im Bewusstsein um einen sparsamen Umgang mit Ressourcen. Wir reparieren etwas Liebgewonnenes, weil wir es festhalten wollen. So, wie Jeff Wall in seiner Kunst den Augenblick festhält.
Seine Socken-Meditation ist 2023 entstanden und ist das jüngste Bild in der Ausstellung der Fondation Beyeler in Basel. Hier wird anhand des umspannenden Rückblicks auf Walls Werk schnell klar: Dieses fotografische Werk ist anders als das, was wir von Fotografie gewohnt sind. Jeff Wall spricht von Tableaus, nicht von Fotos. Und meint Gemälde, grosse Gemälde, mit der Kamera als Pinsel und dem Licht als Farbe gemalt. Tatsächlich hat spätestens mit ihm die Fotografie das Feld endgültig erobert, das einstmals der Malerei vorbehalten war.
Man steht vor seinen grossformatigen Bildern wie vor Leinwänden eines Diego Velázquez oder Eugène Delacroix. Sein Markenzeichen sind die Leuchtkästen. Wall hatte sie bereits in den 1970er Jahren aus der Werbung übernommen. Deren Wirkung ist besonders suggestiv. Das ist cinematografische Fotografie – Kino im Stillstand, gefroren im Grossbilddia.
Aufhebung des Zeitflusses
Dennoch tut Walls Fotografie, was eben gerade Fotografie vermag: zeigen, was innert Sekunden schon wieder vorbei ist, die Wirklichkeit festhalten, die im Fluss der Zeit niemals stillsteht. «Wenn wir die Welt anschauen, bewegt sich diese, wandelt sich ständig. Wenn ich sie aber als Tableau sehe, ist sie selbstverständlich stillgestellt, und alle Bewegung ist aufgehoben», sagt der Künstler.
Der Junge, der vom Baum fällt («Boy falls from tree», 2010), der Barbesucher, der einen Rückwärtssalto macht («In the Legion», 2022): Das geschieht in wenigen Sekunden. Wir sehen hier Dinge, die unser Auge normalerweise kaum festhalten kann. Lediglich im Gedächtnis hinterlassen solche Geschehnisse ihre flüchtige Spur. «Alle, die eine Vorliebe für statische Kunst haben, sind per definitionem interessiert an der Aufhebung des Zeitflusses – was eine Art von magischer Energie in sich birgt, weil wir in der Zeit leben», sagt Wall im Interview mit dem Kurator der Fondation Beyeler.
Seine Fotografie kann aber noch mehr: nämlich zeigen, was gar nicht sichtbar ist. Das gelang vor ihm auch schon dem japanischen Holzschnittmeister Hokusai. Dieser verstand sich besonders gut auf die Visualisierung unsichtbarer Elemente wie der klirrenden Kälte von Schnee oder dem leisen Summen eines Insekts. Selbst einen plötzlichen Windstoss, der in die Kleider einer Schar von Reisenden fährt, Strohhüte in die Luft hebt und papierene Dokumente durch den Äther wirbelt, wusste Hokusai ins Bild zu setzen.
Von den augenblickshaften, fotografischen Qualitäten eines solchen Holzschnitts war Wall angetan. In seinem Werk «A sudden Gust of Wind (after Hokusai)» stellte er die Szene nach – in einer flachen, tief liegenden Gegend bei Vancouver, in der ein ständiger Wind weht. Dabei kam ihm die damals neue digitale Bilderverarbeitungstechnik entgegen. Eine Vielzahl von Negativen montierte er zu einem abschliessenden Einzelbild zusammen.
Loch in der Wirklichkeit
Jeff Wall hält seine Kamera aber auch auf die Lücken in der Wirklichkeit, die Unorte urbaner Grauzonen, die eigentlich niemand sehen will. Das kann eine Brache unter einer Autobahn sein, wo sich Obdachlose ihr behelfsmässiges Quartier aufgeschlagen haben. «Night» (2001) ist ein solches Bild. Es zeigt ein leeres Gelände vor einer Betonmauer bei Nacht. In einer grossen Wasserlache spiegelt sich eine Strassenüberführung. Am Rand erkennt man ein paar Figuren, die sich einen Schlafplatz eingerichtet haben.
Wie dieses sind seine Bilder oft deprimierend. Traurig irgendwie. Es sind Bilder, in welchen Menschen in ihrem Schicksal zu erkennen sind, in ihrer Versehrtheit, Verletzlichkeit, Einsamkeit, Ausgesetztheit. Ob sie arm sind oder privilegiert, spielt nicht einmal eine grosse Rolle. Diese Melancholie ist eigentlich immer in Walls Foto-Tableaus zu spüren – eine Schwermut, die über der Conditio humana liegt.
«Viele fanden meine Bilder hässlich», hat der Künstler einmal bemerkt. Aber Walls Werke sind auch schön. Nämlich darum, weil sie schwer wiegen. Über Schönheit sagt Wall selber: «Wenn wir das Wort verwenden, meinen wir nicht hübsche, gut designte oder gefällige Dinge. Wir meinen eine Art von Kohärenz in einem Kunstwerk, die das Auge und den Verstand hochgradig befriedigt, die aufregend zu betrachten und zu erleben ist und die aufgeladen ist mit Energien wie auch Bedeutungen, die wir nicht unbedingt verstehen.»
Jeff Walls Kunst löst ein, was Charles Baudelaire seinerzeit vom Maler des modernen Lebens forderte: nämlich im Flüchtigen das Poetische und im Vergänglichen das Ewige freizulegen. Damit halten Walls Fotografien gerade in der heutigen Zeit etwas der Schnelllebigkeit und der schieren Bilderflut entgegen.
In «After ‹Spring Snow›» (2002) hat sich Jeff Wall einen fotografischen Exkurs in die Literatur erlaubt. Um auch hier Unsichtbares sichtbar zu machen. Wir sehen eine junge Frau auf dem Rücksitz eines alten Automobils von 1913, die Sand aus ihrem Schuh entfernt. Sie hat sich soeben heimlich mit ihrem Geliebten am Strand getroffen und verwischt die Spuren vor der Heimkehr. Ein Freund, der ebenfalls in das Mädchen verliebt ist, hat das Treffen arrangiert und sie hingefahren.
Weil er nicht gegen die Anstandsregeln verstossen will, die es verbieten, eine barfüssige Frau anzuschauen, wendet er den Blick ab und hört nur den aus dem Schuh rieselnden Sand – «das anmutigste Sanduhrgeriesel der Welt», wie es in Yukio Mishimas Erzählung «Schnee im Frühling» heisst. In seiner Fotografie gibt Jeff Wall den Moment wieder, den der Roman als eine visuelle Leerstelle beschreibt. Wall bedient sich einer Lücke in Mishimas Textgewebe, als wäre sie das Loch im Stoff einer Socke.