Die weltweiten Finanzmärkten sind auch zum Wochenauftakt durch Unsicherheit und Rezessionsängste wie gelähmt. Langfristige Anleger sollten in diesem Umfeld vor allem einen kühlen Kopf bewahren – und sich Gedanken machen, wie sie anlegen wollen, wenn sich der Sturm legt.
Die Schockwellen ebben nicht ab. Die durch US-Präsident Donald Trumps Zollankündigungen geschürte Unsicherheit und Rezessionsängte halten die weltweiten Finanzmärkte auch am Montag in Atem. Die alte Weltordnung wankt. Erneut leuchten die Börsentableaus rot auf. Zum Wochenauftakt verliert der Nikkei 225 rund 7% an Wert, in Hongkong notierte der Hang Seng im Nachmittagshandel gar mehr als 12% im Minus. Auch an den europäischen Märkten droht erneut ein erneuter Ausverkauf.
Langfristig orientierten Anleger empfiehlt sich vor allem eines: Ruhe bewahren. Angesichts der Marktverwerfungen sollten sich Investoren auf die Grundlagen der Aktienselektion besinnen.
Das perfekte Unternehmen
«Das perfekte Unternehmen schüttet keine Dividende aus», schreibt Thierry Borgeat, Mitgründer der Zürcher Vermögensverwaltungs-Boutique arvy und Gastautor von The Market
Das mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, zumal Dividenden für viele Investoren ein wichtiger Bestandteil ihrer Aktien-Anlagestrategie – mittlerweile auch gut via kotierter Fonds (Exchange Traded Funds, ETF) umsetzbar – sind.
Selbstredend ist die Aussage überspitzt formuliert. Es spricht nichts gegen Ausschüttungen in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen per se; die Pflege einer langfristigen Historie kontinuierlich steigender Dividenden ist ein Qualitätsmerkmal und diszipliniert das Management jedes Unternehmens. Besonders attraktiv sind Ausschüttungen, die nicht der Einkommenssteuer unterliegen, wie es in der Schweiz beispielsweise bei Holcim der Fall ist (hier mehr dazu). Auch in Deutschland identifiziert The Market Unternehmen mit attraktiver und stetig steigender Dividende.
Dennoch: Es gibt Unternehmen, die tatsächlich möglichst wenig Dividenden ausschütten sollten – dann nämlich, wenn sie ihren erwirtschafteten Cashflow profitabel und zu hohen Renditen in das Wachstum ihres eigenes Geschäfts reinvestieren und damit ihren produktiven Kapitalstock erweitern können.
Diese Unternehmen sind selten. Im Englischen hat sich für sie der Begriff Compounder (to compound: verbinden) etabliert, weil man als ihr Aktionär und Miteigentümer von einem operativen Zinseszinseffekt profitiert, der über längere Zeiträume betrachtet einen beträchtlichen Gewinn verspricht. Compounder zu identifizieren, gilt als der heilige Gral der Aktienselektion.
Kapitalrendite als Qualitätsmerkmal
Ein zentrales Attribut für Qualität in der Unternehmenswelt ist eine konsistent hohe Kapitalrendite, die über den Kapitalkosten der Gesellschaft liegt. Die beiden gängigsten Masse für die Kapitalrendite sind die Return on Invested Capital (ROIC) und die Return on Capital Employed (ROCE). Ihre Berechnung ist leicht unterschiedlich, doch für die Zwecke der vorliegenden Analyse sind die Differenzen unerheblich. Wir verwenden in den nachfolgenden Ausführungen die ROIC.
Stark vereinfacht gesagt wird für die Berechnung der ROIC der operative Gewinn nach Steuern durch das gesamte Kapital der Gesellschaft – verzinstes Fremd- plus Eigenkapital – geteilt. Sie gibt das Mass der Rendite an, die das Management des Unternehmens mit dem ihm anvertrauten Kapital erwirtschaften kann. Liegt sie über den gewichteten Kapitalkosten (Weighted Average Cost of Capital, WACC), generiert das Unternehmen Wert für seine Aktionäre.
Das an sich ist schon eine wichtige Leistung, denn in freien Märkten mit genügend Wettbewerb gleichen sich die Kapitalrenditen langfristig den Kapitalkosten an. Um konsistent hohe ROIC zu erreichen, muss ein Unternehmen dauerhafte Wettbewerbsvorteile besitzen, die es vor der Konkurrenz schützen. Das können starke Marken, Patente, Skaleneffekte oder Netzwerkvorteile sein – in der Anlagewelt spricht man in diesem Zusammenhang von einem Burggraben.
Dabei ist nicht zwingend die absolute Höhe der ROIC entscheidend. Ein Qualitätsattribut ist vielmehr, wenn es einem Unternehmen gelingt, über Jahre – und über Konjunkturzyklen hinweg – eine konsistent hohe, über den Kapitalkosten liegende Kapitalrendite zu erzielen.
Vorsicht ist beim Vergleich von Kapitalrenditen aus verschiedenen Branchen angebracht. Unternehmen aus besonders kapitalintensiven Branchen, beispielsweise Stromversorger, Energie- oder Telecomkonzerne, erreichen in der Regel nie das gleiche Renditeniveau wie Unternehmen aus Branchen wie Software, Konsumgüter oder Beratungsdienstleistungen.
Der Schweizer Lüftungs- und Klimatechnikspezialist Belimo ist ein Beispiel für eine weitgehend makellose Entwicklung der Kapitalrenditen – hier dargestellt über zwanzig Jahre. Im abgebildeten Zeitraum, in dem sich drei Rezessionen, eine globale Finanzkrise und eine Jahrhundertpandemie ereigneten, bewegte sich die ROIC von Belimo in einem Band zwischen 15 und 25%.
An dieser Stelle kommt das zweite Qualitätsattribut eines Compounders ins Spiel: Die Fähigkeit des Unternehmens, den erwirtschafteten Cashflow laufend in das Wachstum des eigenen Geschäfts zu reinvestieren, konkret: seinen produktiven Kapitalstock zu erweitern, ohne dabei die eigene ROIC zu schwächen. Wenn das der Fall ist, spielt der operative Zinseszinseffekt innerhalb des Unternehmens.
Operativer Zinseszinseffekt
Ein stark vereinfachtes Beispiel dient dazu, diesen Effekt zu illustrieren: Angenommen, Unternehmen A gelingt es, über zehn Jahre konstant eine ROIC von 20% zu erreichen. Weiter ist Unternehmen A in der Lage, den erwirtschafteten Cashflow – wir setzen ihn in diesem Beispiel mit dem Gewinn gleich – jeweils sofort vollumfänglich in den Ausbau des eigenen Geschäfts zu investieren.
Unternehmen A beginnt das erste Jahr also mit einem Kapitalstock von 100 und erwirtschaftet damit einen Cashflow/Gewinn von 20. Dieser Betrag wird umgehend in das eigene Geschäft reinvestiert, so dass der Kapitalstock zu Beginn des zweiten Jahres 120 beträgt. Damit erwirtschaftet Unternehmen A wiederum 20% Rendite, was im Jahr zwei einem Gewinn von 24 entspricht. Dieser Gewinn wird wiederum umgehend reinvestiert, und so weiter:
Das führt zu einem operativen Zinseszinseffekt von 20% pro Jahr über zehn Jahre. Nach weniger als fünf Jahren hat sich der Gewinn von Unternehmen A bereits verdoppelt, und nach zehn Jahren hat er sich mehr als verfünffacht, von 20 im Jahr eins auf 103,2 im Jahr zehn.
Wie mächtig dieser Effekt wirkt, zeigt das fiktive Beispiel von Unternehmen B. Dieses beginnt ebenfalls mit einem Kapitalstock von 100, und es gelingt ihm ebenfalls, jährlich konstant eine ROIC von 20% zu erreichen (was eine hervorragende Leistung ist). Im Gegensatz zu Unternehmen A kann oder will Unternehmen B den erwirtschafteten Cashflow/Gewinn jedoch nur zu 20% ins eigene Geschäft reinvestieren. Die restlichen 80% werden an die Aktionäre ausgeschüttet.
Das bedeutet, von den 20 Gewinn im Jahr eins werden 4 reinvestiert und 16 ausgeschüttet. Das Jahr zwei beginnt mit einem Kapitalstock von 104, worauf bei einer Rendite von 20% ein Jahresgewinn von 20,8 resultiert. Davon werden 4,2 reinvestiert und 16,6 ausgeschüttet – und so weiter. Weil dadurch der operative Zinseszinseffekt in seiner Entfaltung gehemmt wird, steigt der Gewinn von Unternehmen B zwischen Jahr eins und Jahr zehn «nur» um gut 42% auf 28,5.
Selbstverständlich ist die Geschäftsentwicklung in der realen Welt nie so konstant. Es handelt sich um zwei stark vereinfachte Beispiele, die die Funktionsweise des operativen Zinseszinseffekts illustrieren, sofern ein Unternehmen in der Lage ist, in Wachstum zu investieren.
Ein Unternehmen kann auf zwei Arten wachsen: organisch und über Akquisitionen. Ersterer Weg ist beispielsweise, wenn es neue Verkaufslokale eröffnet, in neue Länder vorstösst oder eine neue Fabrik baut, um mehr Produkte herstellen zu können. Gesundes akquisitorisches Wachstum – der zweite Weg – erfolgt meist über kleinere, ergänzende Übernahmen, die effizient und rasch integriert werden können.
Die beiden Wege sind gleichwertig und bieten ihre jeweiligen Vor- und Nachteile. Zentral ist nur, dass es dem Management gelingt, den erwirtschafteten Cashflow in Wachstum zu investieren, ohne dabei die eigene Kapitalrendite zu verwässern.
Kombination von Rendite und Wachstum
Die optimale Kombination hat ein Unternehmen also dann erreicht, wenn es wachsen – und damit den operativen Zinseszinseffekt spielen lassen – kann, während gleichzeitig seine Kapitalrendite im mehrjährigen Trend nicht erodiert.
Als Mass für das Wachstum des investierten Kapitals eines Unternehmens über mehrere Jahre kann der Einfachheit halber die Bilanzsumme benutzt werden. Einen noch aussagekräftigeren Anhaltspunkt liefert der Buchwert je Aktie. Er bildet zwar nicht das gesamte investierte Kapital ab, aber er steht für den Teil des Kapitalstocks, der den Aktionären zusteht. Zudem berücksichtigt er Veränderungen in der Zahl der ausstehenden Aktien.
Die optimale Kombination ist also, wenn der Buchwert je Aktie in der Tendenz stetig steigt, während die ROIC konstant hoch bleibt – was dazu führt, dass der operative bzw. der freie Cashflow (der Cashflow ist die «ehrlichere» Grösse, weil er im Gegensatz zum Gewinn weniger manipuliert werden kann) ebenfalls kontinuierlich steigt.
Soweit die Theorie. Doch wie sieht das in der Praxis aus?
Der perfekte Compounder
Ein hervorragendes Anschauungsbeispiel liefert Copart, ein Unternehmen aus Texas, das sich auf die Versteigerung und den Weiterverkauf von schrottreifen Unfallfahrzeugen spezialisiert hat – ein auf den ersten Blick wenig spektakuläres Geschäftsfeld.
Der Buchwert je Aktie, hier abgebildet über zehn Jahre, von Copart steigt kontinuierlich:
Die Kapitalrendite bewegt sich im gleichen Zeitraum in einem Band zwischen 15 und gut 25%:
Der operative sowie der freie Cashflow expandieren ebenfalls kontinuierlich:
Und für die Aktionäre von Copart sieht das Resultat so aus:
Das perfekte Unternehmen gibt es nicht. Manager wechseln oder sie verlieren aus Grössenwahn ihre Disziplin in der Kapitalallokation; neue Konkurrenten tauchen auf, eine Akquisition erweist sich als Flop, das Wachstum erreicht die Sättigungsgrenze, eine Pandemie schlägt zu und bringt Lieferketten durcheinander.
Echte Compounder à la Copart sind extrem rar. Trotzdem lohnt es sich, sie zu suchen. Denn sie entsprechen nach der Definition von Charlie Munger, dem Ende 2023 verstorbenen langjährigen Geschäftspartner von Warren Buffett und «Architekt» der Beteiligungsgesellschaft Berkshire Hathaway, der perfekten Investition. Man kauft sie und bleibt dann auf seinem Hintern sitzen.
Dieser Artikel ist erstmals am 1. März 2024 erschienen. Aufgrund des grossen Leserinteresses haben wir ihn aktualisiert und erneut publiziert.