Ameisen sind so fleissig und effizient, dass sie Management-Seminare leiten könnten. Trotzdem werden sie vom Menschen gehasst. Wobei: vielleicht genau deshalb.
Der Mensch hat mit der Ameise keine Gnade. Die Tiere werden zertrampelt oder mit Zeitungspapier totgeschlagen, auch mit Backpulver kann man sie ins Jenseits befördern. Mit Zucker vermengt, streuen es manche auf die Wege, die die Ameisen entlanglaufen. Dass die Tiere dadurch qualvoll verenden, ist den meisten Menschen egal.
Jetzt, da die Ameisensaison beginnt, werden in den kommenden Wochen wieder vermehrt Hassverbrechen gegen die Tierchen zu beobachten sein. Die Ameisen sind aus der Winterstarre erwacht und machen sich auf die Suche nach Nahrung. Da die Natur derzeit noch wenig im Angebot hat, spazieren die Ameisen in die Wohnungen, wo sie von Essensresten, Obst, Marmeladen oder Fleisch angelockt werden.
Durchbissene Kabel, lahmgelegtes Internet
Wohin das führen kann, konnte man im vergangenen Jahr in Kehl im Westen Baden-Württembergs beobachten. In die Stadt marschierten unzählige Exemplare der Tapinoma magnum ein. Dabei handelt es sich um eine Ameisenart, die in Nordafrika beheimatet ist und über den Pflanzenhandel nach Europa eingeschleppt wurde. Das Besondere ist, dass diese Art im Gegensatz zu den einheimischen Arten Superkolonien mit Millionen von Tieren bildet. Auch in der Schweiz hat sich die Tapinoma magnum breitgemacht, im Kanton Waadt oder im Kanton Zürich. Es war jedoch Kehl, das die Tiere tyrannisierten.
Monatelang trieben die Ameisen ihr Unwesen. Sie untertunnelten Wege und einen Spielplatz, in einigen Strassen bildeten sich Risse. Sie nisteten sich in Verteilerkästen ein, wo sie Stromleitungen durchbissen und das Internet lahmlegten. Für die Anwohner war das alles sehr ärgerlich. Im Fernsehen sagte eine Bürgerin, sie befürchteten, dass durch die Tiere irgendwann Häuser absackten. «Amok-Ameisen» schrieb die «Bild»-Zeitung über die etwa vier Millimeter grossen Tiere.
Nun droht Kehl eine neuerliche Plage. «Die Ameisen sind nach dem Winter aufgewacht und wuseln wieder – leider», schreibt Annette Lipowsky, die Pressesprecherin der Stadt, auf Anfrage. Schäden seien noch nicht entstanden. Nun will Kehl die Populationen «zum frühestmöglichen Zeitpunkt» bekämpfen. Die Waffe: ein Gerät, mit dem man heisses Wasser dort in die Erde sprüht, wo die Nester vermutet werden.
Schon in der Bibel gilt die Ameise als Vorbild
Die Wahrheit ist: Der Mensch hat den Kampf gegen die Ameise längst verloren. Natürlich nicht nur in Bezug auf die Zahlen. Angesichts der 20 Billiarden Exemplare, die geschätzt auf der Erde leben, ist der Mensch eine Minderheit. Auch vom Wesen her ist die Ameise dem Menschen in vielerlei Hinsicht überlegen. Schon in der Bibel ermahnt man diesen: «Gehe hin zur Ameise, du Fauler», heisst es dort. «Siehe ihre Weise an und lerne!»
Die Tiere bevölkern die Erde seit mehr als 100 Millionen Jahren, und ihr Leben ist ein ewiges Schaffen. Während der Mensch prokrastiniert, Fehler macht und mit dem Chaos seiner Gedanken kämpft, bewegen sich die Tiere schnell, effizient und zielgerichtet, ohne Selbstzweifel und lähmende Angst vor dem Scheitern. Die Ameise arbeitet, weil die Arbeit getan werden muss, und nicht, weil sie darin einen Sinn sucht und später eine mangelnde Work-Life-Balance beklagt. Jedem Unternehmensberater treibt die Ameise Tränen in die Augen.
Ohne grosses Aufhebens errichten die Tiere gigantische, unterirdische Kolonien. Die vermutlich grösste, erbaut von der Argentinischen Ameise, erstreckt sich von der italienischen Riviera bis in den Nordwesten Spaniens. Ameisen reinigen die Wunden ihrer Artgenossen und amputieren verletzte Gliedmassen. Sie sind kooperativ und gegenüber ihrem eigenen Stamm grenzenlos loyal. Einige Arten bauen Pilze an. Ausserdem halten Ameisen Blattläuse als Haustiere, weil sie deren süssen Honigtau schnabulieren; als Gegenleistung verteidigen sie sie gegen Fressfeinde. Win-win.
Geleitet von Pheromonen und kollektiver Intelligenz
Die Arbeitsteilung in einer Kolonie ist klar geregelt, und niemand käme auf die Idee, sie zu hinterfragen. Man muss dazu wissen, dass die Kolonien nahezu reine Frauenstaaten sind. Männliche Ameisen, die Drohnen, haben nur eine Aufgabe: Sie begatten die Jungköniginnen. Danach sterben sie – entweder durch Erschöpfung, weil sie gefressen werden oder weil es nichts mehr für sie zu tun gibt.
Die übrigen Arbeiten wie Verteidigung, Futtersuche, Aufräumarbeiten oder Brutpflege erledigen die Arbeiterinnen und Soldatinnen. Das alles funktioniert ohne Flipcharts und endlose Team-Meetings, sondern ist naturgegeben und basiert allein auf Pheromonen, Instinkten und kollektiver Intelligenz.
Inzwischen orientieren sich Verkehrsforscher, Logistiker und sogar die Algorithmen-Schrauber bei Amazon an Ameisen. So untersuchten Forscher an der Universität Toulouse, wie die Tiere auch bei hoher Dichte Staus vermeiden. Ziel war es, herauszufinden, wie Menschenströme, etwa bei Grossveranstaltungen, besser gelenkt werden können. Transport-Unternehmen wie DHL oder UPS orientieren sich am Verhalten der Tierchen, um Lieferwege zu optimieren.
Dass Ameisen auch Artgenossen als Sklaven halten, Kriege gegen fremde Kolonien anzetteln und sich nach dem Tod einer Königin um den Thron prügeln, wird bei all der Lobhudelei grosszügig ignoriert. Und das alles sogar ohne Burnout. Kein Wunder, dass der Mensch die Ameise hasst.