Ein Flüchtling ist trotz Landesverweis in die Schweiz zurückgekehrt und bezieht Sozialhilfe. Die betroffene Gemeinde kann dagegen nichts machen. Der Fall zeigt, wie absurd das Asylsystem sein kann.
Roman Habrik ist frustriert. Einmal mehr muss er sich mit einem Asylfall beschäftigen, der ihn am System zweifeln lässt. Habrik ist seit acht Jahren Gemeindepräsident von Kirchberg im Kanton St. Gallen. Er habe schon viele Asylfälle gesehen, aber noch keiner habe in der Gemeinde so viel Unverständnis ausgelöst, sagt er im Gespräch mit der NZZ.
Es geht um einen eritreischen Flüchtling, der nach einer Straftat mit einem Landesverweis belegt wurde und die Schweiz verlassen hat. Heute lebt der Mann wieder in Kirchberg und bezieht Sozialhilfe – obwohl der Landesverweis noch immer gilt. Dagegen tun kann die Gemeinde nichts.
Für Habrik ist das nicht nachvollziehbar. Dass der Mann nach der freiwilligen Ausreise einfach wieder habe zurückkehren, sich erneut habe anmelden können, verstehe in der Gemeindebehörde niemand. Dass er zusätzlich Anspruch auf Sozialhilfe habe, sei ein Affront für die Mitarbeitenden im Sozialamt, die diese umzusetzen hätten, und die Steuerzahler, «die einen solchen Unfug finanzieren müssen». Die Gemeinde müsse den Mann damit gleich behandeln wie einen Arbeiter, der unverschuldet arbeitslos und ausgesteuert werde.
In Kirchberg weiss man kaum etwas über den Flüchtling. Wegen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes geben weder der Kanton noch das Staatssekretariat für Migration (SEM) Details an die Gemeinde weiter. Bekannt ist deshalb nur dies: Der Mann kommt 2010 als Minderjähriger in die Schweiz und lebt ein paar Jahre in St. Gallen. Irgendwann wird er straffällig und wird im Sommer 2021 verurteilt. Er verbüsst eine Freiheitsstrafe. Welches Delikt er verübt hat, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass es sich um eine sogenannte Katalogtat handelt, also um eine Straftat, die seit 2016 automatisch einen Landesverweis nach sich zieht.
Von Luxemburg eingereist
Die Liste der Katalogtaten ist lang. Sie reicht von schweren Verbrechen wie Mord bis zu harmlosen Delikten wie Störung des öffentlichen Verkehrs. Das Mindestmass für einen Landesverweis ist in jedem Fall fünf Jahre. Da der Mann schon wieder auf freiem Fuss ist, muss davon ausgegangen werden, dass es sich eher um kein besonders schweres Delikt handelt.
Nach der Entlassung aus dem Strafvollzug – der Zeitpunkt ist ebenfalls unklar – reist der Mann aber nicht aus, sondern bleibt in St. Gallen. Wohl auch, weil er weiss, dass er wenig zu befürchten hat. Ausschaffungen nach Eritrea sind praktisch unmöglich, das Land akzeptiert keine Rückführungen mit Sonderflügen, selbst wenn gültige Papiere vorliegen. Papiere stellt das Land wiederum nur aus, wenn die betroffene Person freiwillig zurückkehren will.
Im Frühling 2023 zieht der Mann nach Bazenheid, das zur St. Galler Gemeinde Kirchberg gehört. In der Gemeinde erfährt man nichts von der Vorgeschichte des Mannes. Denn obwohl er vorbestraft und ausreisepflichtig ist, greift für ihn der Datenschutz. Im Sommer 2024 verlässt der Mann die Schweiz. In Kirchberg hakt man die Sache ab.
Sozialhilfe per Telefon beantragt
Doch nur vier Monate später taucht der Mann wieder in Kirchberg auf. Am 9. Januar 2025 steht er am Schalter des Einwohneramtes der Gemeinde und will sich anmelden. Weil er keine gültigen Papiere hat, fragt die Gemeinde beim Kanton nach. Dort erfährt sie, dass der Eritreer einen Landesverweis kassiert habe und nun aus Luxemburg eingereist sei. Über die Gründe des Landesverweises erfahren die Behörden in Kirchberg nichts. Aufnehmen müssen sie ihn trotzdem. Und nicht nur das.
Am Tag danach meldet sich der Eritreer per Telefon und beansprucht Sozialhilfe. Der Gemeindepräsident Habrik ist irritiert und fragt erneut beim Kanton nach. Die Antwort kommt zwei Monate später: Nach Rücksprache mit dem Staatssekretariat für Migration werde dem Eritreer «die Flüchtlingseigenschaft nicht entzogen, weshalb das Migrationsamt keine Massnahme ergreifen wird und er weiterhin Anspruch auf Sozialhilfe (. . .) hat», schreibt das St. Galler Migrationsamt. Auf Nachfrage der NZZ bestätigt das SEM diese Darstellung.
Im Detail heisst das: Wenn ein Flüchtling des Landes verwiesen wird, verliert er zwar sein Recht auf Asyl, behält aber seinen Status als Flüchtling. Diese juristische Feinheit bedeutet, dass er zwar kein neues Asylgesuch stellen kann, aber Anrecht auf Sozialhilfe hat. Und nicht nur das: Flüchtlinge mit Landesverweis dürfen sogar in der ganzen Schweiz arbeiten, wenn sie einen Job finden. Die Gründe dafür liegen in der Flüchtlingskonvention sowie im Ausländer- und Integrationsgesetz. Letzteres hält ausdrücklich fest, dass ausgewiesene Flüchtlinge die gleichen Ansprüche auf Sozialhilfe haben wie alle anderen Flüchtlinge.
Dass der Mann nach seiner Ausreise nach Luxemburg wieder in die Schweiz zurückkehren konnte, entspricht der Logik des Dublin-Systems. Dieses sieht vor, dass nur in einem Land ein Asylgesuch gestellt werden kann. Nach Verbüssung der Freiheitsstrafe habe sich der Mann in der Schweiz abgemeldet und in Luxemburg erfolglos ein neues Asylgesuch gestellt. Die Schweiz musste den Mann schliesslich wieder zurücknehmen.
«Flüchtlinge, die uns auf der Nase herumtanzen»
Die Sozialhilfe für Flüchtlinge ist im Kanton seit Jahren ein Politikum. 2019 lancierten einige Gemeinden den Vorschlag, dass Flüchtlingen Sozialhilfe auch in Form von Wohnraum zugewiesen werden soll. Vor kurzem hat die St. Galler Regierung dem Kantonsrat einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt, demnächst kommt das Geschäft in den Kantonsrat.
Schwer erklärbare Fälle wie jener von Kirchberg dürften sich damit allenfalls entschärfen lassen. Damit die Sozialhilfe für Flüchtlinge mit Landesverweis reduziert werden könnte, brauchte es allerdings eine Gesetzesänderung auf Bundesebene.
Habrik sieht deshalb den Bund und die Kantone in der Pflicht. «Sie müssen dafür sorgen, dass diejenigen fünf Prozent der Flüchtlinge, die uns in den Gemeinden auf der Nase herumtanzen, nicht genau gleichgestellt sind wie Personen, die nach einem halben Erwerbsleben die Arbeit verlieren und nach der Aussteuerung in die Sozialhilfe fallen», sagt er.
Kirchberg habe viel in die Integration von Asylsuchenden investiert. Als eine der wenigen Gemeinden dieser Grösse habe es einen Jobcoach angestellt, der sich um die Eingliederung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in den Arbeitsprozess kümmere. Dieser arbeite eng mit den Betrieben in der Gemeinde zusammen, etwa mit dem Fleischverarbeiter Micarna, der in der Gemeinde über einen Produktionsstandort verfügt.
Dass für kriminelle und unkooperative Flüchtlinge genau die gleichen Regeln gälten, sei ein Affront für die Steuerzahler und für die Mitarbeitenden im Sozialamt, die diese umzusetzen hätten, sagt Habrik. «Wenn wir hier keine Lösung finden, verliert das ganze System die Glaubwürdigkeit.»