Extremsport, Techno-Beats und italienische Mode: Der Schweizer Dirigent Lorenzo Viotti verkörpert auf Social-Media-Kanälen selbstbewusst das Lebensgefühl der Millennials. In der Welt der klassischen Musik irritiert das. Wieso eigentlich?
Wer ihn anschauen will, braucht nicht unbedingt an ein Konzert zu gehen. Auf Social Media präsentiert sich Lorenzo Viotti in eindrücklichen Posen, mit ungezähmten Locken, den Blick gesenkt und die Hände samt Taktstock auf Augenhöhe angehoben. Auf einem anderen Porträt zeigt sich der Dirigent fitnessgestählt beim morgendlichen Schwimmen im fast überirdisch blauen Zürichsee. Dann wieder sitzt der frischgebackene Vater mit seinem Baby auf dem Sofa oder kuschelt in Designerkluft mit der Freundin. Viotti, der auch als Markenbotschafter für Luxusuhren auftritt, macht kein Hehl daraus, dass sich sein Leben nicht allein im Orchestergraben oder auf Konzertpodien abspielt. Und die Öffentlichkeit nimmt daran regen Anteil – sein Instagram-Account verzeichnet immerhin mehr als 120 000 Follower.
In den schnelllebigen digitalen Bilderwelten verlaufen die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre bekanntermassen fliessend. Und die Leidenschaft für Triathlon, Fallschirmspringen, Rap und trendige Klamotten teilt Viotti mit Millionen Leuten aus den sogenannten Generationen Y und Z. Doch in der Welt der klassischen Musik darf sich ein Dirigent mit antrainiertem Sixpack nicht allzu viel erlauben. So wird er dort schon einmal hämisch «Posterboy», «Hashtag-Dirigent» oder «Lorenzo der Prächtige» genannt. Als er sich einmal hüllenlos am Strand ablichten liess, war der Sturm der Entrüstung gar so gross, dass Viotti das in Wirklichkeit mässig schockierende Nacktfoto eilig löschte und um Entschuldigung bat.
Beruf und Leben im Einklang
Ob man derart bildmächtige Selbstinszenierungen schätzt, ist letztlich Geschmackssache. Kritiker sehen sich allerdings in dem Vorurteil bestärkt, dass von einem solchen Künstler auf dem Feld der «ernsten» Musik wohl nichts Gehaltvolles zu erwarten sei. Diesem Verdacht war schon vor über hundert Jahren ein sehr berühmter Komponist ausgesetzt, nämlich Giacomo Puccini, der unter anderem Werbung für die legendären Borsalino-Hüte machte. Um seine Person herum entwickelte der clevere Verleger Ricordi eine florierende Merchandising-Industrie. Puccinis Kritiker sahen sich bestätigt, seinem Erfolg hat dies jedoch nicht geschadet.
Auch Viottis rasant verlaufende Karriere am Dirigentenpult spricht für sich. Schon mit Mitte zwanzig debütierte er als Einspringer bei zwei Spitzenensembles, dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester und den Wiener Symphonikern. Davor hatte er den Young Conductors’ Award der Salzburger Festspiele gewonnen. Seither gastiert der Sohn des früh verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti an Konzert- und Opernhäusern in aller Welt – so auch ab Ostermontag wieder an der Oper Zürich, wo er die Neuproduktion von Erich Wolfgang Korngolds «Die tote Stadt» in der Regie von Dmitri Tcherniakov leiten wird.
Viotti, der gerade seinen 35. Geburtstag gefeiert hat, nimmt unterdessen Kurs auf den dritten Chefdirigentenposten. Zuerst wurde er, noch in seinen Zwanzigern, vom Gulbenkian-Orchester nach Lissabon verpflichtet. Per Ende Saison verabschiedet er sich nun nach vier Jahren von den Niederländischen Philharmonikern und der Oper Amsterdam, die er gemeinsam leitet, um 2026 als neuer Musikdirektor des Tokyo Symphony Orchestra anzutreten.
Dass er sich nicht auf einen vorgezeichneten Weg festlegen lassen will, bewies der gebürtige Lausanner bereits im Studium, als er zunächst die Fächer Klavier, Gesang und Schlagzeug belegte. Schubladendenken jeglicher Art ist ihm fremd. Seinen freiwilligen Abschied aus Amsterdam begründet er damit, künftig mehr Zeit für Familie, Freunde und Hobbys haben zu wollen. Wie viele in seiner Alterskohorte sucht Viotti eine «Work-Life-Balance», ohne den Sinn von Arbeit infrage zu stellen.
Anders als bei Workaholics aus der sogenannten «Boomer»-Generation soll aber der Beruf, und mag er noch so erfüllend sein, nicht das gesamte Leben dominieren. Für einen Künstler, der nicht zu festen Bürozeiten den Griffel in die Hand nimmt, sicherlich kein leichtes Unterfangen. Der junge Dirigent hat aber nicht zuletzt das warnende Beispiel seines Vaters vor Augen, der 2005 mit fünfzig Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, den er während einer Probe erlitten hatte.
Arbeit am eigenen Mythos
Im Gegensatz zu Marcello Viotti, den man als «bescheidenen Maestro» in Erinnerung behalten hat, rückten auch schon etliche ältere Kollegen die eigene Person gezielt ins Rampenlicht. Perfektioniert hat das Prinzip Herbert von Karajan: Auf Aufnahmen seines Fotografen Erich Lessing ist der bekennende Technikfreak in schnellen Autos, zu Boot und im Flugzeug zu sehen. Auf der Bühne wurde er auf eigenen Wunsch häufig im Profil verewigt, mit geschlossenen Augen und ganz in die Musik versunken. Karajan, so urteilen Beobachter, trachtete danach, sein Leben in der Kunst aufgehen zu lassen.
Im digitalen Zeitalter, in dem sich jeder im Handumdrehen zur Ikone stilisieren kann, verläuft die Arbeit am eigenen Mythos nicht zwingend in dieser Geradlinigkeit und erst recht nicht über einen so langen Zeitraum wie bei Karajan, der fast 35 Jahre Chefdirigent der Berliner Philharmoniker blieb – eine Lebensstellung, wie sie heute kaum noch vorstellbar ist. Das Flüchtige der heutigen visuellen Welten darf freilich auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vermeintlich Spontane oft bewusst inszeniert, also von langer Hand vorbereitet und ins rechte Licht gerückt wird.
Der Unterschied zu früher besteht auch darin, dass sich ein Star wie Lorenzo Viotti mit seinen Instagram-Posts auf Augenhöhe zu seinem Publikum begibt. Fans können mit ihm jederzeit auf direktem Weg kommunizieren, statt am Bühneneingang auf ein Autogramm zu warten. Auch wenn die Nahbarkeit in der virtuellen Sphäre letztlich eine Illusion ist, nähert sich ein erfolgreicher Künstler wie Viotti so der Lebensrealität und den Träumen junger Menschen an.
«Morgens dirigieren, nachmittags schwimmen und dann auf ein Techno-Festival gehen – ich möchte allen zeigen, was möglich ist», so sagte er einmal in einem Interview. «Und wenn ich einen Videoclip von einem Konzert poste, kommen das nächste Mal vielleicht auch Leute, die sich noch nie mit klassischer Musik beschäftigt haben. Bei mir in Amsterdam sind schon 60 Prozent des Publikums jünger als 35 Jahre.»