Nationalreligiöse Juden attackieren immer häufiger christliche Würdenträger in Jerusalem. Daran trage die israelische Regierung eine Mitschuld, meinen Vertreter der Minderheit. Ein Besuch.
Die sechs Mönche stehen im Halbkreis um den Altar. Es ist ein warmer Frühlingstag in der Jerusalemer Altstadt. Hinter den dicken Steinmauern der Dormitio-Abtei ist es jedoch immer noch kalt, die grellen Sonnenstrahlen tröpfeln nur durch einige bunt verglaste Fenster herein. Im Chor beten die Männer zu «dem einen Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit – amen». Für eine Viertelstunde erfüllt der Gesang der deutschen Benediktiner die Kirche, dann ist ihre Mittagshore beendet.
Den einen Gott verehren hier Christen, Juden und Muslime – nirgendwo anders auf der Welt sind die heiligsten Stätten der drei Weltreligionen so nah beieinander wie in Jerusalem.
Da der Nahostkonflikt vor allem Juden und Muslime gegeneinander in Stellung bringt, gehen die Christen in der Stadt der Auferstehung Jesu schnell vergessen. Das ist nicht verwunderlich: Machten Christen vor rund hundert Jahren noch rund ein Fünftel aller Einwohner Jerusalems aus, sind es heute unter zwei Prozent. Und dieser kleinen Minderheit schlägt jüngst immer mehr Hass entgegen – vor allem von radikalen jüdischen Siedlern.
Neben der Abtei leben radikaljüdische Jugendliche
Abt Nikodemus Schnabel schreitet nach dem Gebet am Altar vorbei und führt seine fünf Brüder in die hinteren Räume der Abtei. Dort essen sie nach alter Ordenstradition im Schweigen. Es ist Fastenzeit, und daher gibt es bei den Benediktinern kein Fleisch, dafür mit Pilzen gefüllte Tortellini und Salat. Es dauert nicht lange, bis der Abt nach dem Mittagessen sein Schweigen bricht – der Geistliche will seinem Ärger Luft machen.
«Früher wurde ich vielleicht spätabends angespuckt, wenn ich allein unterwegs war», sagt Schnabel in einem Saal der Abtei. «Jetzt passiert das am helllichten Tag.» Der Abt sitzt im Habit und mit grossem umgehängtem Kreuz auf einem rot gepolsterten Sessel. Hinter ihm hängt ein Kettenhemd in einer Vitrine – noch aus der Kreuzfahrerzeit. Neben dem Spucken berichtet Schnabel von eingeschlagenen Kirchenfenstern, Müll auf dem Gelände der Abtei, Friedhofsschändung und hasserfüllten Graffiti. Einmal habe jemand den Schriftzug «Christen sind schlimmer als die Hamas, sie müssen sterben» an die Kirchenwand gesprayt.
Nikodemus Schnabel lebt dort, wo die Christen Jerusalems besonders unter Angriffen leiden müssen. Direkt neben der Dormitio-Abtei befindet sich das für Juden heilige Grab von König David. In den Häusern rund um das Davids-Grab seien radikaljüdische Jugendliche eingezogen – viele von ihnen sehen Christen genauso wie Mitglieder anderer nichtjüdischer Minderheiten als Feinde an. «Dass hier neben mir ausgespuckt wird, passiert fast täglich», sagt der Abt, als er später in die Sonne hinaustritt.
Ben-Gvir, der «notorische Christenhasser»
«Der grosse Wendepunkt kam, als die jetzige Regierung angetreten ist», sagt Schnabel. Mit rechtsextremen Ministern wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir in der Regierung hätten die Angriffe eine neue Qualität erreicht.
Itamar Ben-Gvir ist Nikodemus Schnabel schon lange bekannt. Das erste Mal begegnete er dem heutigen Minister für nationale Sicherheit 2015 im Gerichtssaal. Dort verteidigte der damalige Anwalt Ben-Gvir militante jugendliche Siedler. Die jungen Männer hatten kurz zuvor einen Brandanschlag auf das Benediktinerkloster in Tabgha am See Genezareth verübt. Die Schäden der Brandstiftung beliefen sich auf über eine Million Franken, verletzt wurde niemand. Die Täter wurden gefasst und vom Orden angezeigt.
Im Gerichtssaal habe der Anwalt Ben-Gvir die christlichen Würdenträger «ohne Ende beleidigt», sagt Schnabel. «Der Verteidiger der Brandstifter von Tabgha ist jetzt der Chef der Polizei – mehr muss ich dazu, glaube ich, gar nicht sagen.» Tabgha ist der Ort der Brotvermehrung, wo Jesus gemäss dem Matthäusevangelium einst mit fünf Laiben Brot und zwei Fischen fünftausend Menschen gespeist haben soll. Es ist einer der heiligsten Orte des Christentums. Nikodemus Schnabel nennt Ben-Gvir aus eigener Erfahrung einen «notorischen Christenhasser». Von der israelischen Regierung erwartet er keinen Schutz.
111 Angriffe auf Christen in Israel im vergangenen Jahr
Zumindest in Jerusalem gibt es wenigstens ein Problembewusstsein bei den Behörden. Als Ende Februar acht Männer verhaftet wurden, die gegen eine Kirche in der Altstadt gespuckt hatten, verurteilte Jerusalems Polizeikommandant Dvir Tamim «dieses hässliche Phänomen». Federica Sasso hält das für einen wichtigen Schritt – vor allem weil christenfeindliche Taten nur selten verfolgt würden.
Die Italienerin Sasso ist Projektkoordinatorin beim Rossing Center, einer israelischen Nichtregierungsorganisation, die sich für ein friedliches jüdisch-christliches Zusammenleben einsetzt. Zum zweiten Mal haben Sasso und ihr Team die Angriffe auf alle christlichen Konfessionen in Israel registriert und gezählt. «2023 haben wir damit angefangen, weil wir innerhalb von zwei bis drei Monaten sehr viele Attacken auf Christen bemerkt haben.»
Im vergangenen Jahr registrierte das Rossing Center 111 Angriffe auf Christen in Israel – der Hotspot bleibt Jerusalem. Opfer seien vor allem ausländische Würdenträger, die wegen ihrer Kleidung eindeutig als Christen zu erkennen sind. «Im Vergleich zum Vorjahr haben wir keine grosse Veränderung bemerkt. Beleidigungen und Anspucken bleiben die wichtigsten Arten der Angriffe, danach kommt Beschädigung von Kircheneigentum», sagt die Katholikin Sasso in einem Café in der Nähe der Jerusalemer Altstadtmauer.
Auch ihrer Ansicht nach häufen sich die Angriffe wegen der veränderten politischen Landschaft in Israel. «Die Menschen, die gegen eine Kirche spucken, sind jüdische Nationalisten, die das ganze Land für sich beanspruchen», sagt Sasso. Einige Teile der Regierung sendeten genau dieses Signal aus – und verstärkten so den Hass. Dass Christen schon seit Jahrhunderten ihre Wurzeln im Heiligen Land haben, interessiert sie nicht.
Leider sei die derzeitige Politik stark nationalreligiös geprägt und grosse Teile der Regierung stünden Minderheiten im Allgemeinen feindlich gegenüber, meint Sasso. «Es gibt keine antichristliche Stimmung in diesem Land, sondern eine Stimmung gegen Minderheiten.»
Die Christen als Kanarienvögel
Darauf weist auch David Neuhaus hin. Der katholische Priester empfängt im herrschaftlichen päpstlichen Bibelinstitut neben dem King David Hotel in der Jerusalemer Innenstadt. Er ist 1977 aus Südafrika nach Jerusalem gekommen und relativiert die Angriffe – obwohl auch er erlebt, wie durch Spucken Christen, ihre Kirchen und Klöster erniedrigt werden.
«Neben dem, was in Gaza oder in Jenin im Westjordanland passiert, ist die Belästigung der Christen marginal», meint der 62-Jährige. Neuhaus arbeitet vor allem mit arabischen Christen zusammen. Das Schicksal der Palästinenser geht ihm nahe. «Christen in Israel sind am ehesten mit Kanarienvögeln in Kohleminen zu vergleichen.»
In früheren Zeiten nahmen Minenarbeiter Kanarienvögel mit in die Schächte. Hörten die bunten Vögel auf zu singen, war das ein Zeichen für Gefahr – kurz darauf bekam niemand mehr Luft. Der Priester dreht ein Bild um, das Juden sonst in anderen Ländern verwenden, um auf die Gefahren des Antisemitismus aufmerksam zu machen. In Israel treffe es auf die Christen zu: «Wie die Kanarienvögel in den Minen ist die Situation der Christen ein Massstab – für die Toleranz oder Intoleranz der Gesellschaft.»
Auch sein Glaubensbruder Abt Nikodemus Schnabel will sich nicht ausschliesslich als Opfer verstehen. Trotz dem Spucken und den Angriffen bleibe Jerusalem auch nach über zwanzig Jahren seine Sehnsuchtsstadt. Ihm gefalle die Intensität hier, sagt Schnabel. «In Jerusalem ist alles sofort religiös und politisch aufgeladen – es ist eine Stadt, die unfähig zum Smalltalk ist.» So interessante Gespräche mit Rabbinern und islamischen Rechtsgelehrten könne er nur hier führen.
Nikodemus Schnabel wie auch David Neuhaus betonen, dass sie sich in keinem Religionskrieg befänden. Viele gläubige Juden solidarisierten sich mit ihnen, mit Muslimen hätten sie bislang keine Probleme gehabt. In Jerusalem tobt vielmehr ein politischer Kampf – in dem die radikalsten Mitglieder der israelischen Regierung die Religion instrumentalisieren, um gegen Minderheiten Stimmung zu machen.