Der verstorbene Papst predigte, weihte und mahnte. Aus Sicht seiner Kritiker handelte der Pontifex mitunter sprunghaft. Ein Missverständnis, meint der Theologe Christian Rutishauser.
Am Ostermontag, einen Tag nach seinem Ostersegen am Petersplatz in Rom, ist Papst Franziskus im Alter von 88 Jahren gestorben. Jorge Mario Bergoglio, wie der Pontifex mit bürgerlichem Namen hiess, war vieles: Prediger, Bischof und scharfer Kritiker des Kapitalismus. Vor allem aber war er Jesuit.
Die NZZ erreicht den Luzerner Theologen und Jesuitenpater Christian Rutishauser wenige Stunden nach der Todesnachricht. Er erklärt, wie das theologische Erbe des verstorbenen Papstes zu verstehen ist – und woher die enttäuschten Hoffnungen vieler Gläubigen rühren.
Herr Rutishauser, Papst Franziskus führte ein langes Leben. Wenn Sie zurückblicken: Was war das Charakteristische an diesem Papst?
Franziskus wurde Jesuitenpater, als die Kirche stark polarisiert war. Damals hatte sich die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gerade erst in zentralen liturgischen und dogmatischen Fragen erneuert. Auch heute geht es um die Frage, wie die Kirche ihre katholische Tradition in einer teils säkular, teils stark durch andere Konfessionen geprägten Welt lebendig hält. Seine Antwort auf diese Frage war: Indem die Kirche von Fall zu Fall abwägt, offen auf die Menschen zugeht, ohne aber ihre ewigen Wahrheiten dem Zeitgeist preiszugeben.
Konservative Katholiken warfen dem Papst vor, er biedere sich den Moden der Postmoderne an. Progressive Katholiken hielten ihn hingegen für zu zaghaft in seinen Reformen. Was war er nun: leidenschaftlicher Reformer oder dogmatischer Traditionalist?
Weder noch. Beiden Auffassungen liegt ein fundamentales Missverständnis zugrunde. Die Konservativen verkannten, dass die von ihm angestossene Dezentralisierung der Kirche einer neuen Wirklichkeit Rechnung trug: Einer Welt, in der die meisten Katholiken nicht mehr in Europa leben – und in der Rom allein schon deshalb nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sein kann. Seine progressiven Kritiker wiederum wollten nichts davon wissen, dass ein Papst nicht einmal so per Handstreich das Zölibat abschaffen und die Priesterweihe für Frauen einführen kann. Dabei dachte er die Erneuerung der Kirche spirituell, vom Evangelium her.
Zur Person
Jesuit und Professor für Judaistik
Christian Rutishauser trat im Alter von 27 Jahren dem Jesuitenorden bei. Er forschte in Israel zum rabbinischen Judentum, von 2012 bis 2021 war er Provinzial der Schweizer Jesuitenprovinz und damit der ranghöchste Jesuit des Landes. Er beriet Papst Franziskus in Fragen des Judentums, aktuell ist er Professor für Judaistik und Theologie an der Universität Luzern.
Sie spielen auf die Reformbewegung des «Synodalen Wegs» in Deutschland an, die die wichtigsten katholischen Gremien des Landes unterstützt hatten.
Auch Franziskus wollte die Kirche synodaler, gemeinschaftlicher machen. Er sprach immer wieder vom Ziel der Synodalität, hat es unter anderem ermöglicht, dass Frauen hohe Ämter im Vatikan besetzen können. Aber er wusste, dass alles, was er tat, nicht ideal war. Zwischen unterschiedlichen Optionen konnte er nur die bessere wählen. Selbstverständlich war das vielen dann nicht gut genug. Er war eben kein Dogmatiker, sondern Jesuit. Während ein Kirchenrechtler jede Einzelfrage nach einer allgemeinen Norm entscheidet, wägt der Jesuit stets von Neuem ab, wie er das Christentum im Hier und Jetzt lebt.
Das müssen Sie erklären.
Für Ignatius von Loyola, den Gründer der Jesuiten war das Konzept der «Unterscheidung der Geister» enorm wichtig. Das heisst: Man muss innerlich immer wieder abwägen, was der nächste Schritt ist. Franziskus hat diese kasuistische Herangehensweise stark geprägt. Sie zeigte sich auch in seinem Handeln als Papst.
Inwiefern?
Mal kam er den deutschen Katholiken in ihren progressiven Anliegen entgegen, mal wetterte er gegen die Gefahren der Moderne und der von ihm so genannten Genderideologie. Das hat Franziskus von aussen oft sprunghaft oder inkonsequent erscheinen lassen. Aber das Gegenteil ist wahr. Er wusste um seine Werte, pflegte aber, so weit es ging, eine Haltung der Offenheit gegenüber der Welt.
Offen war Franziskus auch gegenüber anderen Konfessionen und Religionen. Während der Amazonas-Synode im Jahr 2019 in Rom liess er Figuren der indigenen Göttin Pachamama in einer Kirche aufstellen. Ein traditionalistischer Katholik warf sie in den Tiber.
Die Aufregung über diese Geste des Papstes war damals unter den Traditionalisten gross. Sie haben allerdings ihren Kontext nicht verstanden. Franziskus wollte darauf aufmerksam machen, dass wir die Schöpfung überall bewahren müssen, wo der Mensch sie zu zerstören droht. Was aber nicht weniger wichtig war: Er wollte zeigen, dass die für Jesuiten so zentrale Idee der Inkulturation nach wie vor aktuell ist.
Was ist damit gemeint?
Als die Jesuiten in alle Enden der Welt aufbrachen, um zu missionieren, wollten sie sie anderen Völkern die europäische Lebensweise nicht aufzwingen. So gingen sie davon aus, dass auch die Sitten beispielsweise der Amazonas-Indigenen oder der Chinesen ihre Berechtigung haben. Denn sie vertraten eine positive Anthropologie. Sie studierten die Sitten der Völker aufmerksam und stellten dabei in den Grundfragen der Moral und Ethik viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen fest. Ziel ihrer Mission war es, die vielen Völker in Anerkennung ihrer Unterschiede in Dialog mit der christlichen Botschaft zu bringen. Analog dazu ist beispielsweise zu verstehen, dass Franziskus so intensiv das Gespräch mit Juden und Muslimen suchte.
Das klingt versöhnlich. Allerdings zerschlug Franziskus viel diplomatisches Porzellan: Zuletzt hüllte er das Jesuskind aus Protest gegen das Vorgehen der Israeli in Gaza in ein Palästinensertuch. Davor hatte er im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg vom Bellen der Nato vor den Türen Russlands gesprochen.
Das Christkind mit Palästinensertuch hat mich als Vertreter des jüdisch-katholischen Dialogs geärgert, weil dies im Kontext des Kriegs ein politisches und kein humanitäres Statement war. Doch allgemeiner gesprochen: Franziskus war ganz Lateinamerikaner. Die pauschale Kritik an der Politik des Westens, die oft unterkomplexe Sicht auf das Wirtschaftssystem des Kapitalismus, der Fokus auf humanitäre Krisen und die wirklich oder vermeintlich Unterdrückten: All das nahm Franziskus aus seiner Jugend mit. Denn als er jung war, war seine Heimat Argentinien eine prowestliche Militärdiktatur. Aber er war auch bereit, dazuzulernen und manche Position zu revidieren.
Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Franziskus mahnte oft die spirituelle Erneuerung der Kirche an. In gewisser Hinsicht wollte er, dass das Pendel einmal weg von der konservativen Richtung schwingt. Dabei hat er aber seine Gegner als «Pharisäer» gegeisselt. Wir alle kennen dieses alte, im Grunde antijudaistische Klischee: Die jüdischen Gelehrten als Heuchler, denen der Buchstabe des Gesetzes wichtiger sei als sein Geist. Den Rabbinern dieser Zeit, den Vätern des heutigen rabbinischen Judentums, wird das nicht gerecht. Darauf wiesen wir ihn hin. 2019 konnte dann eine grosse Konferenz zu den Pharisäern in Rom abgehalten werden. Er übernahm ein revidiertes Pharisäerbild in seine Rede. Er zeigte sich also durchaus lernfähig.
Franziskus, der Schüler?
In einem sehr grundsätzlichen Sinne war Franziskus das, auch wenn formelle Bildung für ihn nicht das wichtigste war. Manche hielten ihn wegen seiner starken Überzeugungen sogar für beratungsresistent. Aber in vielen Fragen der Dogmatik oder der Liturgie, in denen er nicht besonders sicher war, hörte er sehr aufmerksam zu. Ich habe ihn als einen offenen, neugierigen Menschen kennengelernt.