Die Serie «Slovo Patzana» hat für Furore gesorgt – in Russland wie in der Ukraine. Das Drama einer Jugend-Gang erinnert daran, woraus der postsowjetische Gangster-Kapitalismus hervorgegangen ist.
In den Strassen spätsowjetischer Grossstädte macht die Faust Karriere. Sobald das Bein lahmt oder der Kopf zögert, übernimmt sie schlagfertig die Führung. Sie spricht eine eigene Sprache, und schneller als jedes Wort schafft sie klare Verhältnisse.
Vor allem sorgt sie für den Unterschied zwischen «Patzani» und «Tschuschpani». Die halbwüchsigen «Patzani» halten sich für harte Kerle, für richtige Russen eben, die einstecken und austeilen können. In der urbanen Tristesse der alten Sowjetunion haben sie sich in Banden organisiert, um ihre Quartiere zu kontrollieren. Die «Schwächlinge» – sogenannte «Tschuschpani» – sind ihnen ausgeliefert. Ohne Schutz seitens der überforderten Polizei können sie die Banden nur mit Geld besänftigen; zahlen sie nicht, lassen die Patzani die Fäuste sprechen.
Von den historischen Patzani aus der Spätzeit der Sowjetunion handelt auch die fiktionale Serie «Slovo Patzana. Krov na asfalte», die auf russischen Online-Plattformen Ende 2023 zum Renner avancierte. Obwohl es offiziell als unstatthaft gilt, sich mit der Kultur des Aggressors auseinanderzusetzen, wird die russische Produktion auch in der Ukraine heftig diskutiert. Schliesslich erregt sie auch die Gemüter emigrierter Russen. «Slovo Patzana» nicht als Sensation zu betrachten, lässt das exilrussische Medienportal Meduza verlauten, sei ähnlich falsch, wie zu behaupten, Malewitsch könne nicht malen.
Keine Propaganda
Die achtteilige Serie hat filmische Qualitäten, die Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden im tatarischen Kazan der 1980er Jahre sorgen für Action und Dramatik, und der Bravour einzelner Schauspieler verdankt man psychologische Tiefenschärfe. Sensationell ist zunächst aber allein der Umstand, dass es sich, obwohl vom Staat gefördert, mitnichten um beschönigende Propaganda handelt. Vielmehr bringt «Slovo Patzana» kollektive Erfahrungen und Traumata in Erinnerung.
Aus der schwärenden Anarchie spät- und postsowjetischer Zeiten gingen nicht nur in Kazan, sondern in der ganzen ehemaligen UdSSR Jugend- und Mafiabanden hervor. Die Jugendlichen hatten oft keine andere Wahl, als sich im Dienste der eigenen Sicherheit einer Gang anzuschliessen und sich ihren Zwängen unterzuordnen. Was man als eine exemplarische Erfahrung des sowjetischen und postsowjetischen Menschen bezeichnen könnte, kann in der Serie nun auf geradezu therapeutische Weise nachvollzogen werden.
«Slovo Patzana» («Wort eines Patzans» – im Sinne von «Indianer-Ehrenwort») basiert auf einem Buch des ehemaligen Patzans Robert Garajew, der seine Erfahrungen in Kazans Strassen später wissenschaftlich aufgearbeitet hat. Der Regisseur Schora Kryschownikow hat aus den soziologischen Dokumenten dann eine Geschichte um drei Protagonisten entwickelt.
Andrei ist ein intelligenter Schüler, der sich auch als Pianist profiliert. Er soll dem charismatischen, aber brutalen Klassenkameraden Marat Nachhilfe in Englisch geben. Marat ist Mitglied der Bande Universam. Er schikaniert Andrei anfangs, später weiht er ihn in die Kleinkriminalität ein. Als Andrei von einer anderen Gang erpresst wird, kann er sich dank Marat den Universam anschliessen.
Mit Klavierspielen ist es damit vorbei, die Hände werden anderweitig trainiert. Andrei muss lernen, zu boxen und zu prügeln – und sich selbst verprügeln zu lassen von älteren Gangmitgliedern. Wie in russischen Straflagern und im Militär gibt es auch in der Gang Formen der sogenannten «Dedowschtschina». Es handelt sich dabei um die rituelle und notorische Misshandlung jüngerer durch ältere Männer.
Die Gang stiftet Identität. «Du gehörst jetzt zu uns», sagt Marat zu Andrei, «rundherum aber sind alles Feinde.» Kein Wunder, kommt es zu Scharmützeln mit gegnerischen Banden. Da kann man von Glück reden, dass Marats älterer Bruder Wowa kampferfahren und rechtzeitig aus dem Krieg in Afghanistan zurückkehrt. Der abgehalfterte Soldat, der seinen Chauvinismus mit Rebellen-Romantik paart, wird zum Führer von dreissig, vierzig Patzani, die teilweise noch die Schulbank drücken in braven Pionieruniformen.
Blut auf den Strassen
Die Serie trägt nicht umsonst den Untertitel «Krow na asfalte» – Blut auf dem Asphalt. Es wird oft und brachial geschlagen in den acht Episoden, mal voll in die Visage, mal tief in die Magengrube. Die Patzani quälen sich mit offenen Wunden, klaffenden Schrammen und blutigen Nasen durch die Fluchten einer prekären Zivilisation, deren brüchige Plattenbauten, marode Kasernen und schmutzige Kantinen langsam in Schnee oder Morast zu versinken scheinen. Wenn sich die versehrten Jungs dann verarzten lassen, weiss man nie recht: Findet die Pflege im Operationssaal statt, auf der Toilette oder in der Metzgerei? Überall die gleichen armseligen Kacheln.
Im Unterschied zu den Gangs in amerikanischen und südamerikanischen Neighborhoods stammen die Patzani nicht aus diskriminierten Milieus. Den Humus ihres falschen Heroismus bildete nicht Armut und Not, sondern die ideologische Fäulnis der sowjetischen Erziehung sowie die deprimierende Nähe überforderter Mütter und versoffener Väter.
Abenteuer und Gewinn versprechen sich die jugendlichen Straftäter einzig noch von Delinquenz. Gleichzeitig suchen sie etwas Wärme beim weiblichen Geschlecht. Den Mädchen begegnen sie mit erstaunlicher Vorsicht. Wo sie Feinden mit grösster Selbstverständlichkeit auf die Rübe hauen, brauchen sie für jeden Kuss offenbar eine moralische Bedenkzeit.
Andrei verliebt sich in eine hübsche Polizistin, die sich als gute Fee des sozialistischen Staates nicht nur des Jungen, sondern auch seiner beschädigten Familie annimmt. Marat hat es auf Aigul abgesehen, eine stolze, blonde Geigerin, die dem Charme des russischen Tricksters tatsächlich erliegt. Als Aigul vom Mitglied einer anderen Gang vergewaltigt wird, führt das zur tödlichen Eskalation des Bandenkriegs. Das Opfer, das nach der Vergewaltigung von Universam geächtet wird, nimmt sich das Leben. Marat aber, der als Einziger zu ihr gehalten hat, wechselt die Front und verrät die Patzani an die Polizei.
Von der Jugend-Gang zur Mafia
Es ist bemerkenswert, dass viele Russen, die den verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine aus ihrem Alltag verdrängen, sich abends dann offenbar durch eine Serie über Strassenschlachten ablenken. Erinnert das nicht sofort an die militärischen Gewaltakte der Gegenwart? «Slovo Patzana», noch vor dem Überfall auf die Ukraine gedreht, ist allerdings keine Antikriegsserie.
Gut möglich, dass manch ein Kriegstreiber sogar Gefallen findet an der männlichen Härte, die die Patzani zur Schau stellen. Und doch haben ausgerechnet ein paar russische Politiker davor gewarnt, wegen Romantisierung von Gewalttaten könnte die Serie zur Imitation von Verbrechen verleiten. Im Vergleich zum chauvinistischen Heldentum, das im Zeichen von Putins Spezialaktion gepflegt wird, nimmt sich «Slovo Patzana» aber ziemlich nüchtern aus.
Die Serie erinnert das russische und ukrainische Publikum zunächst an die Perestroika und die neunziger Jahre. Eben erst befreit von sowjetischen Zwängen, wurde die Bevölkerung von Banden und Mafiaorganisationen schikaniert. Dass eine gerade Linie von den Jugend-Gangs zu den Verbrecherorganisationen führte, ist in «Slovo Patzana» angedeutet. In einer Episode werden in scheinbar dokumentarischen Bildern Todestag und Todesursache mehrerer Patzani angegeben: Fast alle scheinen in den neunziger Jahren im kriminellen Milieu gelandet und selbst Opfer von Gewaltdelikten geworden zu sein.
Perestroika – waren das noch schlimme Zeiten, schrieb sinngemäss der Putin-Propagandist Wladimir Solowjew auf Telegram. Die Jugend könne etwas lernen aus diesen alten Geschichten. Tatsächlich erweisen sie sich als erstaunlich aktuell. Denn scharenweise kehren derzeit junge Soldaten aus einem sinnlosen Krieg zurück und drangsalieren die Zivilbevölkerung mit Härte und Gewalt – wie in der Serie der Afghanistan-Rückkehrer Wowa.
Aber das ist längst nicht der einzige Bezug zur Gegenwart. Die russisch-britische Soziologin Svetlana Stevenson hat in einem Interview mit «Meduza» daran erinnert, dass Wladimir Putin gerne auf seine Zeiten als halbstarker Jugendlicher hinweise und von der Street-Credibility und Härte schwärme, die er sich in der Gosse antrainiert habe. Tatsächlich hätten all seine Netzwerke Gang-Charakter – vom KGB über den FSB bis zu den sogenannten Silowiki seiner heutigen Entourage. In ähnlicher Weise dürfte aber auch die Macht ukrainischer Oligarchen auf kriminellen Netzwerken beruhen.
Orientierung im Dschungel
Olexi Arestowitsch, der ehemalige, unterdessen abtrünnige Militärberater Selenskis, schrieb auf Telegram, bei den Gangs handle es sich um Surrogate für die postsowjetische Welt, in der der Pseudosozialismus von einem Pseudoliberalismus verdrängt worden sei. Nach der Irrlehre des Kommunismus wurde die Sowjetgesellschaft mit einer Art Gangster-Kapitalismus konfrontiert, der aus dem dekadenten Westen zu kommen schien, sich aber zu Sowjetzeiten im Schwarzmarkt vorbereitet hatte. Im Dschungel von Anarchie, Wertezerfall und Zynismus bot die Gang den Jugendlichen dann Orientierungshilfe mit einer Kombination von Stammesdenken und Chauvinismus.
Jüngst klagte der russisch-schweizerische Schriftsteller Michail Schischkin in den Tamedia-Zeitungen, Russlands Bevölkerung sei mit Stammesbewusstsein infiltriert: «Die russischen Regime haben seit je versucht, die Mentalität eines von Feinden umgebenen Stammes zu fördern.» Das ist genau, was in «Slovo Patzana» zum Ausdruck kommt. «Du gehörst jetzt zu uns», sagt Marat zu Andrei, «rundherum aber sind alles Feinde.»