Bilder einer in Ungarn angeklagten italienischen Antifaschistin lösen in der Heimat eine Welle der Empörung aus. Der Fall ist für Giorgia Meloni höchst unbequem.
Die Bilder aus einem ungarischen Gerichtssaal wühlen Italien auf. Es sind Fotos, die man in Europa nicht mehr gewohnt ist. Sie zeigen eine Italienerin, die, an Händen und Füssen gefesselt, an einer Kette dem Gericht vorgeführt wird. «Wie ein Tier», beklagt der Anwalt von Ilaria S., einer 39-jährigen Lehrerin aus Monza bei Mailand.
Die schockierenden Bilder, die seit Dienstag überall in den italienischen Medien zu sehen sind, haben eine Welle der Empörung ausgelöst. Nur Giorgia Meloni, die italienische Regierungschefin und enge Verbündete des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, schweigt.
In die furchtbare Situation hat sich Ilaria S. durch die Teilnahme an Protesten gegen Rechtsextreme in Budapest gebracht. Das liegt elf Monate zurück. Seither sitzt die antifaschistische Aktivistin unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem ungarischen Gefängnis in Untersuchungshaft fest. Die Italienerin soll bei der Aktion zwei demonstrierende Neonazis verletzt haben. Sie weist die Vorwürfe zurück. Auch wurde sie von ihren angeblichen Opfern, die nur leichte Verletzungen erlitten, nicht angezeigt. Ihr drohen wegen gefährlicher Körperverletzung und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung bis zu 24 Jahre Freiheitsentzug.
Keine passenden Kleider, kein Toilettenpapier
Der Vater von Ilaria S. versucht seit Monaten, die italienischen Behörden für das Schicksal seiner Tochter zu interessieren. Er wandte sich mehrfach an die italienische Botschaft in Budapest und an das römische Aussenministerium. Er trat im italienischen Fernsehen auf und berichtete auch dort von den brutalen Haftbedingungen. Er erzählte, dass seine Tochter anfangs in Einzelhaft in einer winzigen, verdreckten Zelle eingesperrt gewesen sei. Man hatte ihr nur die Unterwäsche gelassen und verweigerte ihr sogar Toilettenpapier.
Nach mehreren Tagen erhielt sie dreckige Gefängniskleidung und ein Paar Stöckelschuhe, die nicht ihrer Grösse entsprachen. «Nach meinem Empfinden war es Tortur», sagte der Vater. Erst nach sieben Monaten durften die Eltern Ilaria im Gefängnis besuchen. Weder die Botschaft noch das Aussenministerium hätten sich um seine Tochter gekümmert.
Das hat sich nun schlagartig geändert. Die Fotos aus dem Gerichtssaal haben ein derartig grosses Medienecho ausgelöst, dass die Strategie, den Fall Ilaria S. unter der Decke zu halten, gescheitert ist. Nach elf Monaten bestellte Aussenminister Antonio Tajani den ungarischen Botschafter ein. Er überreichte ihm eine erste offizielle Protestnote gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen der Italienerin. Giorgia Meloni soll das Thema in einem Telefongespräch mit ihrem Kollegen Viktor Orban vor dem EU-Gipfel in Brüssel angesprochen haben.
Gefangene in Ketten auch in Italien?
Italiens rechtspopulistische Regierungschefin bringt der Fall in eine unangenehme Lage. Vor den Europawahlen im Juni ist es ihr Ziel, den Ungarn Orban mit seiner Regierungspartei Fidesz in ihr Parteienbündnis ECR in Brüssel aufzunehmen und so ihre Rolle in der EU zu stärken. Nun könnte für sie der Zeitpunkt gekommen sein, sich zwischen einer autoritären und einer liberalen Rechten zu entscheiden.
Die diplomatischen Fortschritte wurden rasch von Melonis Gefolgsleuten konterkariert. Ihr Schwager, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, sagte: «Ich habe die Bilder von Ilaria S. im Gericht nicht gesehen und gebe keinen Kommentar ab.» Der Senatspräsident Ignazio La Russa verstieg sich zunächst zu der Behauptung, dass der Vorfall in Budapest «die Würde der Inhaftierten in allen Teilen der Welt» betreffe. Wie ein Tier vorgeführte Angeklagte? «Auch in Italien habe ich gesehen, dass es ein nicht unähnliches System gibt», schwafelte La Russa.
Rom wie Budapest? Nach Protesten aus der Justiz sah sich der Senatspräsident zu einer Richtigstellung gezwungen. «Unser Gesetz verbietet es, den Häftling unter erniedrigenden Bedingungen auszustellen», liess er mitteilen. Aus den Reihen von Melonis Koalitionspartner Lega waren noch schärfere Äusserungen zu hören. Für den stellvertretenden Parteichef Andrea Crippa gilt: «Jedes Land bestraft, wie es will.» Bei der Opposition stiessen diese Kommentare auf Entrüstung. «Die mittelalterliche Szene empört ganz Europa, aber nicht die italienische Regierung», sagte Peppe Provenzano vom Partito Democratico. Die PD-Chefin Elly Schlein forderte Meloni auf, ihr Schweigen zu brechen. «Diese Affäre bestätigt, dass Meloni sich stets die falschen Verbündeten ausgesucht hat», sagte Schlein.