Von einem Mann, der an einem Herzensprojekt festhält, das anfänglich gar nicht seines war.
Alois Iten findet Uhren langweilig. Und doch organisiert er seit Jahren eine der erfolgreichsten Uhrenmessen der Schweiz – ohne damit einen Rappen zu verdienen: Den Uhrensammlermarkt im Zürcher Volkshaus.
Iten ist 80 und sitzt gebückt auf einem Stuhl, mitten auf der Theaterbühne des Volkshauses. Es ist Sonntagnachmittag, Messetag, und Iten lässt seinen Blick über die Markttische vor ihm schweifen. Dort stapeln sich Hunderte von Uhren, die Swatch liegt neben der Patek Philippe, die Taucheruhr neben dem Wecker. Man findet «ein Ührli für ein paar Fränkli», wie er sagt, aber auch limitierte Sammlerstücke.
Iten ist wohl der Einzige, der den Überblick über dieses Wimmelbild behält. 61 Mal hat die Uhrenbörse schon stattgefunden, öfter als viele andere. Iten sagt: «Die meisten haben nicht den Schnauf, das so lange durchzuziehen.» Unter Kennern gilt Itens Uhrenmarkt als der beste in der Deutschschweiz. Als eine wahre Institution.
Die Veranstaltung hat in den letzten dreissig Jahren alle wichtigen Trends der Branche überdauert: das Konjunkturhoch Anfang der nuller Jahre, als sich plötzlich viel mehr Menschen eine teure Uhr leisten konnten, den Swatch-Boom, die Wirtschaftskrise.
Jetzt gerade erlebt die Uhrenbranche einen neuen Trend: Der Handel mit Occasionen boomt. Laut einer Studie der Boston Consulting Group werden gebrauchte Uhren bis 2026 fast 60 Prozent des Marktes für Luxusuhren ausmachen. Der Markt für gebrauchte Uhren wächst schneller als jener für neue. In den letzten Jahren sind Rolex, Omega und Breitling in das Geschäft mit gebrauchten Modellen eingestiegen. Online-Händler wie Chrono 24 haben sich im Secondhand-Handel mit Uhren etabliert, wie es Ricardo einst für Möbel tat.
Eigentlich ideale Bedingungen für Alois Itens Messe. Doch die Schaukästen am Uhrenmarkt im Zürcher Volkshaus leeren sich nur langsam. Denn dieser Boom, er findet bloss online statt.
Analoge Uhrenmärkte wie jener von Alois Iten hingegen leiden. Einige seiner Verkäufer kämen nicht mehr, weil sie online günstiger verkaufen könnten. 50 Händler sind es noch, die sich alle sechs Monate im Volkshaus versammeln. «Früher konnte ich den ganzen Saal und teilweise die Bühne füllen», sagt Iten. «Heute muss ich die Tische schon etwas auseinanderschieben, damit es nicht leer aussieht.»
«Alois, komm, wir machen einen Uhrenmarkt!»
Iten verdient mit der Messe kein Geld. Die Einnahmen, sagt er, reichten jeweils für die Saalmiete und ein Mittagessen mit den Helfern, mehr nicht. Auch um die Uhren geht es ihm nicht. «Davon habe ich keine Ahnung», sagt Iten. Er ist selber weder Sammler noch Händler. Iten, der seit Jahren Tausende von Geräten an den Mann bringt, besitzt selbst nur eine einzige Uhr.
Dass Iten, Digitalisierung und Branchentrends zum Trotz, an seiner aus der Zeit gefallenen Uhrenmesse festhält, hat weder mit Geschäft noch mit Leidenschaft zu tun. Sondern mit seinem Bruder Josef.
Josef Iten, von Beruf Uhrmacher, war für seinen neun Jahre jüngeren Bruder Alois ein Vorbild. «Er hat mich immer mitgezogen. Wenn er gesagt hat: Komm, wir machen das, dann war ich da. Weil er auch da war.»
Und einmal sagte sein Bruder eben: «Komm, Alois, wir organisieren einen Uhrenmarkt.» Und so taten sie das.
Ihr Leben lang telefonierten die beiden täglich miteinander, manchmal gar mehrmals am Tag. Bis 1998, als Josef mit 63 Jahren an Krebs starb. «Nach seinem Tod», sagt Alois Iten, «nahm ich manchmal das Telefon in die Hand, wählte seine Nummer und merkte erst dann: Josef kann nicht mehr abnehmen.»
Mit dem Tod des Uhrmachers Josef war zunächst auch die Messe im Volkshaus vorbei. Während zweier Jahre fand sie nicht statt.
Doch dann riefen die Händler Alois Iten an. «Sie meinten: ‹Alois, warum machst du den Markt nicht mehr? Wir brauchen dich!›»
Also organisierte Alois den ersten Uhrenmarkt ohne seinen Bruder. Seine Frau Margrit führte die Kasse, sein Sohn Sacha half beim Auf- und Abbau, bei der Türkontrolle, mit den Vitrinen. Anfangs vermisste Alois seinen Bruder. «Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Jetzt ist er einfach da, wenn ich den Uhrenmarkt organisiere.»
Seit fast 30 Jahren organisiert Alois Iten den Uhrenmarkt nun ohne seinen Bruder. 56 Mal hat die Messe ohne Josef stattgefunden.
Inzwischen kennt Alois Iten den Ablauf in- und auswendig. Und alle kennen ihn. «Warum habe ich nicht denselben Tisch wie letztes Mal?», fragen sie ihn. Oder: «Wisel, wie geht’s deiner Frau?» Wisel – das ist Alois Itens Spitzname.
Wisel hat auf jede Frage eine Antwort, für jedes Problem eine Lösung.
Und er ist dauernd daran, etwas zu organisieren. Neben dem Uhrenmarkt veranstaltet Iten auf der offenen Rennbahn in Oerlikon über 20 Rennen pro Jahr. Er hat dort sein ganzes Berufsleben als Velomechaniker verbracht, noch heute leitet er den Verein, der sich für Belange der Rennbahn einsetzt.
Die Rennbahn, zusammen mit dem Uhrenmarkt: Das sei fast ein Vollzeitjob, vor allem für einen 80-Jährigen.
«Wenn ich dann noch da bin»
Iten kann nicht anders. Er versuche zwar immer wieder, weniger zu arbeiten, sagt er. Aber ohne Erfolg. «Wenn ich nicht aufstehen, nichts unternehmen kann, das ist brutal.»
So wie kürzlich, als er sich nach einer Herzoperation nur langsam erholte, zeitweise kaum aufstehen konnte. «Für eine Weile war nicht klar, ob ich die nächsten Weihnachten noch erleben würde», sagt Iten. Jetzt ist er zwar wieder fitter, hat aber gelernt, Pausen einzulegen. Und, weil der Tag am Uhrenmarkt von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends dauert, sogar einen Mittagsschlaf.
Er sitze auch öfters auf seinem Stuhl, statt im Saal zu patrouillieren, sagt Iten. «Es ist eben nicht mehr wie vor 30 Jahren.»
Doch den Uhrenmarkt aufgeben? Kommt für ihn nicht infrage. Bis Ende 2026 ist der Saal im Volkshaus schon reserviert. Das nächste Mal findet er am Sonntag statt. Zusammen mit seinem Sohn Sacha, der jedes Jahr mehr mithilft, gehe es gut. «Sacha weiss alles, kann alles. Jeder braucht einen Sacha», sagt der 80-Jährige über seinen Sohn.
Ob er dereinst den Uhrenmarkt ganz an seinen Sohn übergeben wird? Wahrscheinlich nicht, sagt Iten. Sacha arbeite Vollzeit und habe Kinder, da könne er nicht den ganzen Uhrenmarkt alleine organisieren. Das schmerze ihn aber nicht. «Wenn ich weg bin, bin ich ja weg. Dann müssen die anderen machen, was ihnen Freude macht.»
Unterdessen ist Nachmittag, der Uhrenmarkt im Volkshaus neigt sich dem Ende zu. Iten beginnt, Tische und Stühle zusammenzutragen. Um 16 Uhr, als der Markt schliesst, trägt er ein Schild zu seinem Lieferwagen. Darauf steht: «Heute Uhrenmarkt». Im Vorbeigehen rufen Händler ihm zu: «Ciao, Wisel, bis nächstes Mal!»
Und er antwortet: «Ja, bis nächstes Mal – wenn ich dann noch da bin!»