Michelle Steiner und Kira Forster engagieren sich in Zünften, dürfen aber keine Mitglieder sein. Ein Gespräch über Vorurteile.
Lange galten die Zürcher Zünfte als reine Männerzirkel, Frauen durften am Sechseläuten nur Blumen verteilen oder als Ehrengäste am Umzug teilnehmen. Nun kommt es in einigen Vereinigungen zum Paradigmenwechsel. In der Zunft zur Meisen, der grössten Zunft der Stadt, können Frauen etwa seit kurzem offiziell Mitglied werden.
Auch die Zunft Höngg will sich für Frauen öffnen, die Zunft zu den Drei Königen lässt Frauen ebenfalls am Sechseläuten mitlaufen. Andere Zünfte halten an ihrer Tradition fest. Wie ist es für Frauen, die zwar am Frühlingsfest dabei sind, aber nicht Mitglied sein dürfen? Die NZZ hat mit zwei Zünftertöchtern gesprochen. Michelle Steiner ist 26 Jahre alt und arbeitet bei der Swiss. Ihr Vater ist Mitglied der Zunft zur Weggen. Kira Forster, 24, studiert an der Pädagogischen Hochschule in Zug. Ihr Vater ist Zunftmeister der Quartierzunft zur Letzi.
Frau Steiner, Sie sind 26 Jahre alt und laufen am diesjährigen Sechseläuten das letzte Mal mit. Wie fühlt sich das an?
Michelle Steiner: Ich habe gemischte Gefühle. Ich habe den Umzug noch nie als Zuschauerin gesehen, auf das freue ich mich. Andererseits bin ich traurig, es ist das Ende einer Ära. Ich war über zehn Jahre Ehrendame. Das heisst, ich durfte im Zunftsaal zu Mittag essen, beim traditionellen Semmeliauswerfen mitmachen, spannende Ehrengäste kennenlernen und vorne beim Böögg stehen, wenn er verbrannt wurde.
Und das dürfen Sie nächstes Jahr nicht mehr?
Steiner: Doch, aber ich habe mich dazu entschieden, nicht mehr mitzulaufen. Aber ich freue mich auf eine neue Zeit mit meiner Mutter und Familie und Freunden, wir werden am Limmatquai Blumen verteilen.
Und Sie, Frau Forster, dürfen Sie noch mitlaufen?
Kira Forster: Ich hätte als Kinderbetreuerin oder Ehrendame mitlaufen können. Aber ich habe mich für etwas anderes entschieden. Die Zunft zur Letzi hat als einzige eine Lindy-Hop-Tanzgruppe, sie ist ein fester Bestandteil der Zunft. Ich habe mich dafür entschieden und tanze seit drei Jahren am Umzug mit. Alternativ könnte man auch als Reiterin teilnehmen. Seit diesem Jahr ist das als Frau bei der Letzi ebenfalls möglich. Davor war es nur alle fünf Jahre.
Steiner: Wirklich? Bei uns dürfen Frauen immer mitreiten. Die Reitergruppe sucht derzeit sogar Frauen.
In der Zunft zur Letzi treffen sich die Frauen gemeinsam zum Nachtessen und dürfen am Abend mit der Zunft auf den Auszug. Gibt es Unterschiede zwischen Ihren beiden Zünften?
Forster: Ja, Frauen, die kostümiert mitlaufen, dürfen mit auf den Auszug. Beim Auszug besucht eine Delegation der Zunft am Abend drei Zunfthäuser und hält Reden, um sich über den Zunftmeister lustig zu machen. Dass wir Frauen mitdürfen, ist für mich eine Premiere.
Wie sieht es bei der Zunft zur Weggen aus, Frau Steiner?
Steiner: Als Ehrendame wird man zum Mittagessen eingeladen. Am Abend ist man aber nicht mehr dabei. Wir begleiten unsere Zunft aber immer auf den Auszug. Bei den Gesellen, so heissen die Jungen unserer Zunft, bevor sie aufgenommen werden, dürfen wir als Frauen bei allen Anlässen dabei sein. Vergangenes Jahr waren wir auch auf der Gesellen-Reise in Rom mit dabei. Ich bin bei unserer Zunft sehr integriert.
Forster: Bei uns ist das anders, wir sind schon seit einigen Jahren Mitglieder bei unserer Jungzünftergruppe. Bei uns heissen die Gesellen Jungzünfter. Bei uns werden Frauen bei den Jungzünftern aufgenommen, mit 18 erhält man die Einladung.
Wären Sie denn gerne Zünfterinnen?
Steiner: Grundsätzlich ist das Interesse da, sonst würde ich mich wahrscheinlich nicht so engagieren. Mir ist es einfach wichtig, dass meine Zunft mit diesem Schritt einverstanden ist. Ich finde, man merkt, ob man willkommen ist oder nicht. Stand jetzt ist es so, dass meine Zunft sich freut, mich zu sehen. Und das möchte ich so beibehalten.
Forster: Viele Leute empfinden Zünfte als nicht zeitgemäss. Das kann ich teilweise verstehen. Frauen haben tatsächlich einen anderen Stellenwert in einer Zunft als Männer. Ich weiss aber nicht, ob ich Zünfterin sein möchte. Würden alle Frauen Zünfterinnen, sässe niemand mehr am Strassenrand und würde Blumen verteilen. So würde eine Tradition verschwinden. Dann wäre Sechseläuten nur noch ein Umzug, der von Touristen geschaut wird, und das historische Wissen nimmt ab, was das Sechseläuten ausmacht.
Steiner: Ich glaube nicht, dass nur Touristen den Umzug schauen würden. Es gibt auch viele Zürcherinnen, die den Umzug schauen. Zumal nicht alle Zünfterinnen Zünftertöchter werden wollen. Und wer weiss, vielleicht finde ich es am Schluss auch cooler, zuzuschauen, als mitzulaufen.
Sie sind beide Mitglied der Interjungzünftigen Vereinigung (IZV). Frau Steiner, Sie sind im Stab, und Frau Forster, Sie sind im Vorstand Ihrer Jungzünfter. Warum engagieren Sie sich so stark für das Zunftwesen, obwohl Sie nicht offiziell Mitglied sein können?
Forster: Man ist auch Mitglied, wenn man den Job der Zuschauerin hat. Das gehört dazu.
Steiner: Mein Engagement gehört nicht nur der Zunft. Es ist auch für den IZV, bei dem wir durchaus Mitglieder sein können. Tatsächlich sind die Mitglieder beim IZV sogar fünfzig Prozent Männer und fünfzig Prozent Frauen. Das Sechseläuten dreht sich für mich nicht nur um die Weggen-Zunft. Es geht um die Gemeinschaft, die Tradition, das Fest an sich. Auch wenn ich selbst kein Mitglied bin, gehöre ich trotzdem zu meiner Zunft.
Aber nicht als Zünfterin.
Forster: Ich finde es schade, dass es sich beim Sechseläuten riesig um das Thema Frauen dreht. Das Sechseläuten ist viel mehr. In meiner Zunft ist dies nicht allgegenwärtig. Mich stört es, wenn man das Sechseläuten wegen der Frauenfrage kleinmacht. Und was mir auffällt: Die meisten Frauen, die ein Problem damit haben, sind Frauen, die nicht dabei sind, sondern nur beobachten. Also Frauen, die vor allem den Montag zu sehen bekommen. Die haben mehr Mühe mit dieser Situation als ich.
Steiner: Alle haben das Gefühl, man wird abgewertet, weil man kein Mitglied ist. Das stimmt nicht. Ich bin ja trotzdem dabei: Am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag und Sechseläutenmontag. Der Umzug ist nur ein Bruchteil des Sechseläutens und des ganzen Zunftwesens. Ich bin mehr dabei als mein Bruder.
Forster: Ja, ich auch.
Was ist für Sie das Beste am Sechseläuten?
Steiner: Ich liebe alle Tage. Da gehört der Freitag auf dem Lindenhof genauso dazu wie der Sechseläutenmontag.
Und auf dem Lindenhof ist es auch egal, ob man eine Frau ist?
Steiner: Dort ist es auch egal, ob man einer Zunft angehört.
Forster: Für mich ist es auch die Musik. Der Sechseläutenmarsch ist nie traurig, der ist immer fröhlich. Und natürlich die Vorfreude und das Wetter.
Spielt das Sechseläuten auch in Ihrem Privatleben eine Rolle?
Steiner: Ja, es hat einen grossen Einfluss. Meine ganze Familie ist in der Zunft. Ich habe ein paar meiner engsten Freunde durch die Interjungzünftige Vereinigung kennengelernt. Wir feiern zusammen Geburtstage, gehen zusammen in die Ferien oder Ski fahren.
Forster: Bei mir ist das ähnlich. Die Zunft ist nicht nur eine grosse Familie, sondern sie verbindet auch. In Zünften kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Diese Verbindungen bleiben ein Leben lang.
Steiner: Das versteht man nur, wenn man dabei ist. Es ist schwierig, das in Worte zu fassen.
Forster: Ein Freund von der Zunft ist jemand, der mich mit einem einfachen Mittel zum Lachen bringt. Ich sehe die gleichen Leute Jahr für Jahr, egal, ob man sich sonst nicht sieht.
Wie bereiten Sie sich aufs Sechseläuten vor?
Forster: Da ich mittanze, habe ich viele Proben, aber auch Anlässe und Apéros. Meine Familie und ich machen, seit ich dabei bin, jedes Jahr am gleichen Ort ein Foto. Ich würde gerne eines Tages eine Zeitleiste von diesen Bildern haben.
Steiner: Viel vorschlafen. Dann mache ich mir die Fingernägel mit dem Wappen der Weggen drauf und dem Böögg. Und ändere meinen Klingelton auf den Sechseläutenmarsch.
Forster: Das mache ich auch!