Thomas Mann, Ernst Toller und Sigmund Freud mussten fliehen, als die Nazis die Macht übernahmen. Zusammen mit Hunderttausenden von Juden und Regimegegnern. Wolfgang Benz will ein Gesamtbild der Emigration aus Hitlerdeutschland geben.
In seinem neuesten Buch zum Thema Exil bietet Wolfgang Benz eine Gesamtdarstellung. Er will drei Themen in einem Gesamtbild zusammenführen: die Flucht der Juden, die Deutschland verliessen, um ihr Leben zu retten, die Emigration der politischen Opponenten des NS-Regimes und den Exodus führender Vertreter von Kultur und Wissenschaft. Das ist kein einfaches Unterfangen. Benz bekennt denn auch schon im Vorwort, dass dies bedeute, «auf jeden Anschein von Vollständigkeit zu verzichten».
Beim Verzicht auf Vollständigkeit geht der Autor sehr beherzt vor. So wird die grosse Emigrationswelle meist jüdischer Filmschaffender, die entscheidend zum Aufstieg der Filmmetropole Hollywood beigetragen hat, mit keinem Wort erwähnt. Bei der Literatur konzentriert Benz sich auf den Moskauer Schriftstellerkongress 1934, zweifellos ein interessantes Ereignis. Auch das Exilland Mexiko wird gewürdigt. Aber die USA, die für Schriftsteller der wichtigste Fluchtort waren, werden vergleichsweise stiefmütterlich behandelt.
Auf Ernst Toller und Thomas Mann, zentrale Figuren der literarischen Emigrantenszene in New York, geht der Autor eher beiläufig ein. Wenig Licht fällt auch auf die Emigration von Wissenschaftern, etwa Ernst Fraenkel und anderen, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrten und dort das Fach Politikwissenschaft etablierten. Das Institut für Sozialforschung, das an der Columbia University eine Heimat fand, wird nur gerade einmal erwähnt.
Hetzkampagnen
Das Buch folgt einem anderen Strukturprinzip. Nach einem längeren Rückblick auf die Emigration im Ersten Weltkrieg, dessen Notwendigkeit sich nicht unbedingt erschliesst, folgt ein Kapitel über die Flucht vor den siegreichen Nationalsozialisten. Hier finden sich sehr überraschende Thesen. Benz schreibt beispielsweise: «Der Nobelpreisträger Thomas Mann floh nicht aus Deutschland, wurde auch nicht vertrieben.» Weiter heisst es, die Nationalsozialisten hätten ihn «gerne als Aushängeschild deutscher Kultur im ‹Dritten Reich› behalten».
Das Gegenteil ist richtig. Nach seinem Vortrag zum 50. Todestag von Richard Wagner am 13. Februar 1933 gab es eine intensive Hetzkampagne gegen den wegen seiner «kosmopolitisch-demokratischen Auffassung» ohnehin unbeliebten Schriftsteller. Die Bayerische Politische Polizei erliess einen Haftbefehl gegen Thomas Mann, dem er nur entging, weil er aus dem Ausland, wo er auf Vortragsreise war, nicht zurückkehrte. Im Übrigen stammte seine Frau Katia aus einer berühmten jüdischen Familie, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Schon deshalb gab es zur Emigration keine Alternative.
Ähnlich merkwürdig sind die Ausführungen zu Sigmund Freud und Ernst Toller, die ihre Heimat nicht verliessen, um anderswo in Ruhe weiterzuarbeiten oder aus «Überdruss am Vaterland», wie Benz schreibt. Sondern um als Juden ihr Leben zu retten. Den vier Schwestern Freuds gelang die Ausreise nicht, sie alle wurden 1942/43 von den Nationalsozialisten ermordet. Das Gleiche gilt für die Geschwister von Ernst Toller. Der Autor erwähnt das nicht – warum auch immer.
Ausgrenzung
Es folgt ein Überblick über nationalsozialistische «Judenpolitik» 1933 bis 1938, also von der «Machtergreifung» bis zur «Reichskristallnacht». Die Minderheit der jüdischen Deutschen wurde immer brutaler ausgegrenzt. Die NS-Regierung förderte einerseits die Auswanderung nach Palästina und schröpfte andererseits die Ausreisewilligen durch die «Reichsfluchtsteuer». Dazu kamen andere Abgaben und der Zwang, Häuser, Geschäfte und Wertsachen weit unter ihrem realen Wert zu veräussern. Untersagt wurde die Auswanderung erst im Oktober 1941. Bis dahin war es mehr als 350 000 Menschen, fast zwei Dritteln der jüdischen Deutschen, gelungen, Deutschland zu verlassen.
Ein Kernstück des Buches sind die «Orte des Exils», eine Topografie der Emigration. Hier wird deutlich, dass viele Emigranten immer wieder von neuem die Koffer packen mussten, denn die Schergen der Nationalsozialisten waren ihnen stets auf den Fersen. Nicht wenige Emigranten waren ins Saargebiet ausgereist, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unter internationaler Verwaltung stand, nach einer Volksabstimmung am 1. März 1935 allerdings wieder zum Deutschen Reich gehörte.
Österreich bot nur bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1938 eine sichere Zuflucht. Die demokratische Tschechoslowakei war eine sehr wichtige Station für viele Emigranten, doch der Staat wurde 1938/39 zerschlagen. Auch viele andere Länder, wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark oder Norwegen, boten nach Kriegsausbruch und der Besetzung durch die Deutschen keinen Schutz mehr. Viele Flüchtlinge, die sich schon in Sicherheit geglaubt hatten, fielen der Gestapo in die Hände. Andere erkämpften sich unter unendlichen Mühen Schiffspassagen in ferne Länder.
Lager auf Zypern
Ibibobo und Buenos Aires, Sydney und Melbourne sind Orte, die Benz in seiner reizvollen Topografie vorstellt. Auffallend ist allerdings, dass mit Stockholm der neben London wichtigste Ort des politischen Exils auf seiner Landkarte fehlt. Hier versammelten sich Sozialisten verschiedener Couleur und machten Pläne für eine Neuordnung Europas nach dem Krieg. Die bedeutendsten Vertreter dieser Kreise waren Willy Brandt und Bruno Kreisky, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil international geachtete Regierungschefs in Deutschland beziehungsweise Österreich wurden.
Ein eigenes Kapitel ist den Kindertransporten 1938/39 gewidmet, die zumeist nach Grossbritannien führten und durch die etwa 10 000 jüdische Kinder gerettet wurden. Ein anderes Kapitel gilt der sogenannten Alijah Bet, der illegalen Einwanderung in das von den Briten rigoros abgeschirmte Palästina. Diese Einwanderungsversuche scheiterten sehr oft. Viele jüdische Flüchtlinge fanden sich in britischen Konzentrationslagern auf Zypern wieder oder wurden nach Europa zurückgeschickt, was nicht selten ihre Ermordung zur Folge hatte.
Wolfgang Benz schildert zahlreiche Einzelschicksale anschaulich und illustriert so die verschiedenen Facetten der Emigration auf eindrückliche Art. Man liest das Buch deshalb mit Gewinn, auch wenn das Gesamtbild die eine oder andere Leerstelle aufweist.
Wolfgang Benz: Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933–1945. C.-H.-Beck-Verlag, München 2025. 416 S., Fr. 49.90.