Long Covid ist nach wie vor nicht heilbar, doch jetzt gibt es ein überraschendes Mittel dagegen: Nikotinpflaster. Korrekt angewendet, scheinen diese die Beschwerden der Betroffenen teilweise nachhaltig zu lindern. Was fehlt, sind grössere wissenschaftliche Studien.
Infektionen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 haben an Schrecken verloren. Denn sie verlaufen inzwischen meist glimpflich und klingen innert kurzer Zeit ab. Rund 5 Prozent der Erwachsenen und 1 Prozent der Kinder leiden im Anschluss daran allerdings an teilweise schweren körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen, die als Long Covid bekannt sind.
Jetzt gibt es dagegen möglicherweise ein ebenso überraschendes wie einfaches Mittel: Nikotinpflaster. Korrekt angewendet, scheinen diese die Beschwerden von Long-Covid-Betroffenen teilweise nachhaltig zu lindern. Sollten sich diese Beobachtungen in wissenschaftlichen Studien bestätigen lassen, wäre das ein enormer Fortschritt. Denn bis anhin können die facettenreichen Symptome von Long Covid nicht wirksam angegangen werden.
Besonders häufig klagen die Betroffenen über starke Erschöpfung, Muskelbeschwerden, Schwindel, Herzklopfen, Verdauungsstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Worauf diese Beschwerden genau zurückgehen, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Ihre Vielfalt spricht indes dafür, dass sie auf einem Ungleichgewicht in einem übergeordneten Kontrollzentrum beruhen.
Zur Debatte stehen dabei unter anderem die zellulären Andockstellen von Acetylcholin – einem Neurotransmitter, der unzählige Körperfunktionen steuert und im gesamten Organismus Rezeptoren hat. Bereits zu Beginn der Pandemie hegten Forscher um Jean-Pierre Changeux vom Institut Pasteur in Paris den Verdacht, Sars-CoV-2 könnte den Acetylcholin-Rezeptor lahmlegen.
Nikotin verdrängt das Spike-Protein des Virus
Ihre Vermutung gründete auf der Beobachtung, dass das Spike-Protein – jener stachelige Eiweissstoff, mit dem sich das Coronavirus Eintritt in die Zellen verschafft – in seiner Struktur bestimmten Schlangengiften ähnelt. Diese haben die Fähigkeit, den Acetylcholin-Rezeptor auszuschalten. Wie die französischen Wissenschafter mutmassten, nehmen Infektionen mit Sars-CoV-2 dann einen schweren Verlauf, wenn es dem Immunsystem des Menschen nicht gelingt, den Erreger von den Acetylcholin-Rezeptoren fernzuhalten.
Als Gegenmassnahmen schlugen sie die Anwendung von Nikotin vor, etwa in Form von Pflastern oder als Kaugummi. Der Gedanke dabei: Nikotin besitzt eine sehr hohe Affinität zum Acetylcholin-Rezeptor und sollte daher in der Lage sein, das Virus davon zu verdrängen und es so gleichsam dem Immunsystem preiszugeben. Da Nikotin rasch abgebaut wird, wären die Rezeptoren schon bald wieder zugänglich für Acetylcholin.
Was bei der akuten Infektion bis anhin nicht bestätigt werden konnte, scheint bei Long Covid aussichtsreich zu sein. Anlass zur Hoffnung geben zumindest die Erfahrungen von Ärzten um den Anästhesisten Marco Leitzke von der Universität Leipzig und der Helios-Klinik in Leisnig.
Die Hypothese des französischen Forscherteams inspirierte Leitzke bereits im Jahr 2022 dazu, Nikotin als Therapie gegen Long Covid zu testen. Schon damals gab es Hinweise, dass das Leiden auf einer unzureichenden Elimination von Sars-CoV-2 beruhen könnte. Sollte eine virusbedingte Blockade des Acetylcholin-Rezeptors dabei die treibende Kraft sein, so die Überlegungen des Leipziger Arztes, könnte Nikotin vielleicht Abhilfe schaffen.
Diesen Therapieansatz testete er zunächst bei drei Männern und einer Frau, die nach einer mild bis mässig stark verlaufenden Corona-Infektion an Long Covid erkrankt waren. Dazu hatte er die Versuchspersonen angehalten, an sieben aufeinanderfolgenden Tagen ein Nikotinpflaster in einer niedrigen Dosierung von 7,5 Milligramm auf die Haut zu kleben und es dort jeweils 24 Stunden zu belassen. Über die Ergebnisse des Pilotprojekts berichtete er im Fachjournal «Bioelectronic Medicine». Laut dem Bericht klangen die Beschwerden bei allen Behandelten ganz oder weitgehend ab – und das innert weniger Tage oder Wochen.
Noch fehlt der wissenschaftliche Nachweis
Der Erfolg der Behandlung habe extrem hohe Wellen geschlagen, sagt Leitzke. «Long-Covid-Betroffene aus aller Welt haben sich hilfesuchend an uns gewandt. Mittlerweile haben wir Zehntausende behandelt oder bei der Anwendung von Nikotin angeleitet – und das laut Angaben der Betroffenen mit Erfolg.»
Wie der Arzt einräumt, sind Erfahrungsberichte von Patienten nicht gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Evidenz. Um die Nikotin-Therapie sachgerecht beurteilen zu können, müsse man diese nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin untersuchen. «Bis die Ergebnisse solcher Studien vorliegen, vergehen jedoch meist vier bis fünf Jahre. So lange wollen die Patienten aber nicht warten», erklärt Leitzke. Dennoch seien sie im Begriff, die Methode eingehend zu überprüfen.
In einer neuen Untersuchung gelang es ihnen dabei, die Wirksamkeit der Nikotin-Therapie mit wissenschaftlichen Daten zu untermauern. Eine 44-jährige Frau, die seit mehr als drei Jahren an Long Covid litt, hatte eingewilligt, sich vor und nach einer siebentägigen Nikotin-Anwendung einem Ganzkörperscan (PET/CT) zu unterziehen. Die Ärzte injizierten ihr dazu ein radioaktiv markiertes Protein, das an die Acetylcholin-Rezeptoren andockt, in die Blutbahn und verfolgten anschliessend mit dem Scanner, wie viel davon vorübergehend in ihrem Gehirn hängenblieb.
Das Ergebnis: Nach der Nikotin-Behandlung reicherte sich dort sehr viel mehr radioaktiver Tracer an als zuvor – was für eine Zunahme an frei verfügbaren Acetylcholin-Rezeptoren spricht. Damit einhergehend besserten sich die ausgeprägte Sprachstörung und die anderen Long-Covid-Symptome der betroffenen Frau nachhaltig.
Wenn Nikotin gegen Long Covid wirkt, sollte dasselbe dann nicht auch für den Konsum von Tabak gelten? «Das trifft nicht zu», sagt Leitzke. «Es gibt Indizien, dass Rauchen vor Long Covid schützt. So sind mehr 95 Prozent aller Personen, die unsere Long-Covid-Sprechstunde aufsuchen, Nichtraucher.» Das sei aber kein Grund, mit dem Rauchen anzufangen.
Tabakrauch enthalte mehr als 8000 gesundheitsschädigende Stoffe. «Nikotin gehört zwar nicht dazu. Wird es inhaliert, führt es jedoch rasch zur Abhängigkeit. Denn in dem Fall überflutet es die Acetylcholin-Rezeptoren innert Sekunden», erklärt der Arzt. Das in den Pflastern enthaltene Nikotin berge demgegenüber keine Suchtgefahr, da es nur langsam freigesetzt werde.
«In zu hohen Mengen appliziert, kann es jedoch unangenehme Nebenwirkungen haben, etwa Übelkeit, Herzklopfen und Albträume», sagt Leitzke warnend. Wichtig sei es daher, mit der niedrigsten verfügbaren Dosis zu beginnen und diese dann gegebenenfalls zu erhöhen. Dauer und Intensität der Behandlung seien allerdings sehr individuell.
«Generell empfehlen wir, die Therapie so lange fortzuführen, bis sich die Beschwerden merklich gebessert haben», sagt Leitzke. Die Erschöpfung und die kognitiven Symptome gingen erfahrungsgemäss sehr viel rascher zurück als die Geruchs- und Geschmacksstörungen. Diese besserten sich häufig erst einige Zeit nach Absetzen der Nikotin-Therapie. Wie er hinzufügt, kommt das Verfahren grundsätzlich für die meisten Betroffenen in Betracht, auch Kinder. Ob und wie gut es wirke, lasse sich im Einzelfall allerdings nicht vorhersehen.