Bis in zehn Jahren wird Norwegen all seine Züge zentral aus Oslo steuern. Experten sind überzeugt: Die dabei eingesetzte digitale Technologie könnte der Schweiz milliardenschwere Ausbauprojekte ersparen. Doch der SBB-Chef Vincent Ducrot hat eine andere Vision.
An den blechernen Garderobenschränken im Bahnhof Jaren kleben noch immer Namensschilder. «Arild», «Ingrid», «Morten» steht auf den blauen Türen. Vor einem Jahr zogen sich die Bahnhofswärter hier noch um, bevor sie sich an den Holztisch setzten. Im Schichtbetrieb tippten sie Codes in ein Morsegerät, um mit den umliegenden Bahnhöfen zu kommunizieren. Etwa um zu fragen, ob sie den Zug vor ihrem weiss gestrichenen Fenster zur nächsten Station losschicken dürfen.
Jetzt sind die blauen Schränke leer, niemand arbeitet mehr hier. In einem Hinterzimmer ist ein verstaubter Wirrwarr aus dünnen, weissen Kabeln zu sehen. Es ist das System, mit dem die Mitarbeiter bis vor kurzem die Weichen und Signale steuerten. Baujahr: 1954. «Spaghetti» nennen die norwegischen Bahntechniker das Kabelchaos leicht verächtlich.
Der Bahnhof Jaren funktioniert inzwischen vollständig digital. Weichen, Signale, Bahnübergänge – alles wird aus der Leitstelle im rund eine Stunde entfernten Oslo gesteuert. Das hölzerne Stationsgebäude in seinem typischen Rot hat eine neue Funktion erhalten: Es ist zum Symbol für die Zukunft der Eisenbahn geworden.
Weichen von Hand umstellen
Mit dieser Zukunft liegt Europa seit längerem im Kampf. Länder wie Deutschland haben jahrelang nur das Nötigste investiert. Oder nicht einmal das: Auf Deutschlands Gleisen gibt es noch immer Weichen, die von Hand umgestellt werden müssen. Die Folge sind Verspätungen und unzufriedene Kunden.
Die Schweiz ist zwar den umgekehrten Weg gegangen und hat immer neue Milliardenpakete für den Bahnausbau geschnürt. Doch weil die Kosten für den endlosen Ausbau explodiert sind, hat Bundesrat Albert Rösti vor kurzem eine Notbremsung eingeleitet. Eine Expertenkommission nimmt die Projekte unter die Lupe.
In Norwegen scheint es eine Lösung für all diese Probleme zu geben. Mehr Kapazität auf den Schienen «durch Digitalisierung anstelle von Stahl und Beton»: So formuliert es der deutsche Industrieriese Siemens, der die entscheidende Technologie liefert.
Siemens Mobility, die Bahntechniksparte des Unternehmens, hat sich das Herzstück des Zugverkehrs vorgenommen: die Stellwerke. Sie schalten die Signale oder stellen die Weichen. In klassischen Bahnsystemen stehen sie entlang der Strecken und an jedem grösseren Bahnhof oft noch als Gebäude mit Bedienpersonal. Modernste Technologie existiert dort neben Systemen, die jahrzehntealt sind und bei denen die Ersatzteile langsam knapp werden.
Ein radikaler Schritt
Bane Nor, der Betreiber des norwegischen Schienennetzes, wird nun die gesamte Technologie auf einen Schlag digitalisieren. Gleichzeitig ersetzt er all seine 300 Stellwerke mit einer einzigen, zentralen Anlage für das ganze Streckennetz – ein radikaler Schritt und eine Premiere in Europa.
Mehr als 350 Bahnhöfe in ganz Norwegen werden mit der neuen, ferngesteuerten Technik ausgerüstet, das Gleiche gilt für Lokomotiven und Triebzüge. Siemens Mobility installiert 14 000 Balisen auf dem 4200 Kilometer langen Schienennetz – Geräte, welche die Position der Züge ermitteln und wichtige Daten übertragen, um für einen reibungslosen Betrieb zu sorgen.
Die Strecke von Oslo zum schmucken Kleinbahnhof Jaren arbeitet als erste mit dem neuen System. Hat das Megastellwerk in Oslo Probleme, steht eine zweite, räumlich getrennte Reserveanlage bereit, die sofort übernehmen kann.
Lokführer braucht es weiterhin. Sie müssen künftig aber nicht mehr auf Lichter und Signaltafeln am Streckenrand blicken. Sie erhalten alle wichtigen Informationen auf ihren Monitor. Die Lieferantin Siemens verspricht Norwegen grosse Vorteile: Die Fokussierung auf ein Stellwerk erlaubt es, mehr Züge über die Schienen zu schicken, die Steuerung des Bahnnetzes wird effizienter und sicherer. Der Gleisbetreiber spart Geld, weil weniger Mitarbeitende für den Betrieb des Schienennetzes benötigt werden.
Besucher aus der ganzen Welt
Am Bahnhof Jaren ist inzwischen Kjell Holter ins Stationsgebäude getreten. Der grossgewachsene, grauhaarige Manager ist bei der norwegischen Bahnnetzbetreiberin für das Digitalisierungsprojekt zuständig. Er wirft einen kurzen Blick auf die Gardinen mit Blumenmuster, die den Raum in weiches Licht tauchen. «Die Mitarbeiter lebten hier wie in einem Zuhause», sagt er leicht nostalgisch.
Doch das war einmal. Holter hat über zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht, das digitale und zentralisierte System voranzutreiben. Alles begann 2004, als er einen Brief der Sicherheitsbehörde erhielt: Sie forderte die Bahnnetzbetreiberin auf, sofort mit der Umstellung auf die neuste europäische Sicherungstechnik für den Bahnverkehr zu beginnen.
«Wir wussten damals nicht einmal, was das war», sagt er mit einem Lachen. Heute steht er Delegationen aus der ganzen Welt Rede und Antwort, weil diese hoffen, einen Blick in die Zukunft des Schienenverkehrs zu erhaschen.
Sein Unternehmen hat in einem Osloer Vorort ein eigenes Testzentrum gebaut. Dort merzen Techniker Kinderkrankheiten aus. An einer originalen, 50 Meter langen Weiche samt Bahnschranken schulen sie zudem das Personal der norwegischen Bahnunternehmen.
Das Zugpersonal ist mit dem neuen System zufrieden. Der Lokomotivführer Stein Arne Sveen sagt auf der Fahrt an den Bahnhof Jaren, es mache die Arbeit nicht nur angenehmer, sondern erhöhe auch die Sicherheit. Im dichten norwegischen Schneefall seien die Signale auf der Strecke nämlich nur schlecht zu sehen. «Und bisher konnte nichts einen Zug stoppen, dessen Fahrer ein rotes Signal übersehen hat.»
Neu kann das zentrale Stellwerk in Oslo eingreifen. Auch dank Technologie aus der Schweiz. Die Steuerungssoftware wurde von Siemens Mobility in Wallisellen bei Zürich entwickelt, einem der wichtigsten Entwicklungsstandorte des Konzerns.
Der Schweiz droht ein Flickenteppich
Was in Norwegen entsteht, könnte auch der chronisch überlasteten Schweizer Bahn helfen. Fachleute aus dem Bahnumfeld empfehlen den SBB zwar nicht, nur auf ein einziges Stellwerk zu setzen. Doch in der Schweiz drohe ein technologischer Flickenteppich zu entstehen, wenn die SBB ihre 500 Stellwerke weiterhin abhängig vom technischen Zustand und vom Alter einzeln austauschten, wie ein erfahrener Bahnmanager sagt.
Das hemme die Innovation: Würden die neuen, digitalen Technologien konsequenter und schneller eingeführt, könnten viele der in der Schweiz heiss diskutierten Kapazitätsengpässe entschärft werden. Die digitalen Technologien würden es erlauben, dass in derselben Zeit mehr Züge fahren könnten. Ohne dass dafür teure neue Gleisanlagen gebaut werden müssen.
Digital statt Beton also – auch in der Schweiz? Der SBB-Chef Vincent Ducrot sagt im Gespräch mit der NZZ, Norwegen sei zwar auf dem richtigen Weg. Im Schweizer Bahnnetz gebe es tatsächlich Stellwerke, die aus unterschiedlichen technischen Generationen stammen. «Es ist sehr aufwendig, diese immer untereinander kompatibel zu machen.»
Es gibt laut Ducrot jedoch einen grossen Unterschied. Das Schweizer Schienennetz ist zwar nur rund 1000 Kilometer länger als jenes von Norwegen. «Es gehört aber zu den am dichtesten befahrenen der Welt.» Norwegen ist im Vergleich dazu ein Bahn-Entwicklungsland, auf vielen der meist eingleisigen Strecken verkehrt nur ein Zug pro Stunde.
In der Schweiz arbeitet man laut Ducrot bereits daran, dass alle 90 Sekunden ein Zug über eine Strecke brausen kann. «Mehr als das umzusetzen, ist schwierig», sagt Ducrot – selbst mit der neuesten Technologie, wie sie in Norwegen zum Einsatz kommt. Das Motto «Digital statt Beton» stimme aus diesem Grund nur begrenzt. «Es ist klar: Bauliche Erweiterungen des Schienennetzes bleiben notwendig.»
Einen deutlichen Fortschritt könnte es laut Ducrot nur mit einer völlig neuartigen Technologie geben: der Abschaffung der sogenannten Blockstruktur im Zugsverkehr. Heute müssen Züge immer einen bestimmten Abstand einhalten, egal wie schnell oder langsam sie fahren. Das bremst den gesamten Verkehr. In Zukunft könnten Züge flexibler gesteuert werden, so dass sie dichter aufeinander folgen können, wenn es die Situation erlaubt.
Europa ist zu langsam
Frankreich experimentiert bereits mit dieser Technologie, die europaweit als nächster grosser Schritt in der Digitalisierung des Bahnverkehrs gilt. Doch die Umsetzung ist sehr aufwendig. Ein Grund: «Es dauert sehr lange, bis neue Technologien in Europa erprobt und standardisiert sind», sagt der SBB-Chef Ducrot. «Das macht mir grosse Sorgen, denn ich bin überzeugt: Die Digitalisierung ist absolut entscheidend für die Eisenbahn.»
Am Bahnhof Jaren in Norwegen hat sich der Zug inzwischen zurück auf den Weg in den Hauptbahnhof Oslo gemacht. Während er durch die endlosen grünen Landschaften rollt, sagt der Projektleiter Kiell Holter, dass sie eigentlich viel weiter sein müssten. Doch die Pandemie, Lieferprobleme bei Siemens und anderen Unternehmen sowie der Ukraine-Krieg haben dazu geführt, dass das Vorhaben phasenweise drei Jahre hinter dem Zeitplan lag.
2034 soll es endlich so weit sein, und das mindestens 2 Milliarden Euro teure Projekt soll abgeschlossen werden. Bis dahin scheinen die Norweger auf Nummer sicher gehen zu wollen: Die alten Lichtsignale auf dem Weg zum Bahnhof Jaren sind zwar abgestellt. Aber noch nicht abmontiert.