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Westlich von Neapel könnte jederzeit ein unterirdischer Vulkan ausbrechen. Trotzdem leben über eine halbe Million Menschen dort. Eine Reise zu den Phlegräischen Feldern zeigt, warum sie bleiben.
Zugegeben, etwas mulmig war mir vor der Abreise schon. Was, wenn er hochgeht? Schliesslich bebt die Erde bei den Phlegräischen Feldern seit Wochen; Zeichen für erhöhte Aktivitäten im Untergrund.
Die Wissenschafter und Forscher messen dem Teufel ein Ohr ab. Sie messen Parameter, registrieren auffällige Zeichen, mögliche Vorzeichen, stellen Modellrechnungen an. Wann es geschieht – niemand kann es wissen. Doch wenn, dann gute Nacht. Bis nach Sibirien blies der Vulkan von Neapel bei einer seiner heftigsten Eruptionen vor 39 000 Jahren seine Asche. Danach gab es in Europa ein sommerloses Jahr mit Hungersnöten – einer der Gründe, weshalb die Neandertaler ausstarben.
Das ist die klassische Erzählweise vor jedem möglichen Vulkanausbruch: Drama. Endzeitstimmung. Als ob die Katastrophe herbeigesehnt würde. Doch es gibt, allem Schrecken zum Trotz, eine komplett andere Sicht: der Vulkan als Wohltäter. Wo er ausbricht, reichert er die Erde mit wertvollem Phosphor, Kalium und Kalzium an und macht sie fruchtbar. Nirgends kann eine derart grosse Ernte eingefahren werden, nirgends schmecken Früchte und Gemüse besser als im Umfeld eines gewaltig grossen Vulkans. Zudem lässt die stete Unruhe, die ein aktiver Vulkan produziert, die Menschen nicht ruhig sitzen. Die einzige Entgegnung auf die Todesgefahr heisst: Leben, mit Vollgas!
Oder kühl kalkulierend ausgedrückt: Wenn in einem Hochrisikogebiet wie den Campi Flegrei heute rund 600 000 Menschen leben, müssen die Vorteile überwiegen.
Krimis sollen den Naturpark aus dem Schatten des Vesuvs holen
Treffpunkt Belvedere, 20 Kilometer westlich von Neapels Stadtzentrum. Ein beliebter Aussichtspunkt am Kratersee, dem Lago d’Averno. Dahinter ist das Schloss von Baia zu sehen, das Kap Miseno und der Golf von Neapel, bei klarem Wetter geht die Sicht bis nach Ischia. Francesco Escalona hat diesen Ort vorgeschlagen, weil er die Schönheit der Gegend auf einen Blick zeigt.
Escalona ist einer der besten Kenner der Campi Flegrei und ein unermüdlicher Werber für das Gebiet. Er war fünf Jahre lang Direktor des 2003 gegründeten Naturparks, leitete politische Kommissionen und hat mehrere Sachbücher geschrieben; zuletzt zwei Krimis, die in den vulkanisch aktiven Feldern spielen. Zurzeit ist er am dritten. Francesco Escalona hat den Krimi als sein Ausdrucksmittel gewählt, weil er möglichst viele Menschen erreichen will, nicht nur Gelehrte. Seine Mission: die Campi Flegrei aus dem Schatten des mächtigen Vesuv holen. Escalona findet, ihr Wert werde total unterschätzt.
Es braucht noch viel Überzeugungsarbeit. 20 Millionen Menschen pilgern jährlich zu den Ausgrabungen der einst vom Vulkan verschütteten römischen Stadt Pompeji, die sich auf der entgegengesetzten, östlichen Seite von Neapel befindet. Die «Felder», auf die Fläche bezogen ein Mehrfaches grösser als Pompeji, sie kommen dagegen kaum auf eine Million Besuchende. «Dabei haben sie mehr zu bieten als der grosse Bruder», findet Francesco Escalona.
Pompeji vergleicht er mit einer Fotografie, die ein singuläres Ereignis abbildet, wenn auch ein spektakuläres – den Moment im Jahr 79 n. Chr., als alles Leben abrupt endete. Die Campi Flegrei dagegen sind ein Film, der weit vor der Zeit der Römer einsetzt und sich über Jahrtausende hinzieht – bis heute.
Beim Belvedere erklärt Escalona, was die Campi Flegrei ausmacht: Er zeigt auf die vielen näheren und entfernteren Hügelketten, die man rundherum sehen kann. Sie alle gehören zu unterschiedlichen Kratern, die im Verlaufe der Zeit gebildet wurden – etwa der 133 Meter hohe Monte Nuovo, der beim letzten Ausbruch von 1538 entstanden ist.
22 sichtbare Krater erheben sich, und einige andere sind versteckt im Meeresbecken, die alle zum selben Vulkansystem gehören. Von oben sieht es wie Windpocken aus. «Ist man in den Campi Flegrei unterwegs», sagt Francesco Escalona, «gelangt man von einem Kessel zum anderen. Da kann man schnell die Orientierung verlieren.»
In den «brennenden Feldern» liegt die Hölle, wie Galileo Galilei berechnete
Der «Film», von dem der Experte gesprochen hat, beginnt mit der Ankunft der ersten griechischen Siedler, ein halbes Jahrtausend vor Christus. Auf der Suche nach Rohstoffen gelangten sie in die Bucht von Neapel – Nea Polis, die neue Stadt, wird erst später gegründet. Zuvor liessen sich die griechischen Pioniere auf den Phlegräischen Feldern nieder, die sie tief beeindruckt haben müssen. Überall war Rauch und Schwefel. «Flegraios», brennende Felder, nannten sie ihre Entdeckung.
Das Gebiet erlangte schnell grosse Bedeutung für die Kolonien von Magna Graecia in Süditalien. Um das zu unterstreichen, wurde der Ort mythologisch aufgeladen: Hier befand sich fortan das Schlachtfeld, auf dem sich die Giganten und Götter des Olymps bekämpfen. Die Vulkanseen, die es dort zu bestaunen gab, regten die Phantasie auf spezielle Weise an: Sie wurden zu Augen von feuer- und funkensprühenden Zyklopen.
Eine spezielle Funktion erhielt der Lago d’Averno – «ohne Vögel», wie der Name besagt. Der See muss also eine tote Zone gewesen sein, in der die Tierwelt nicht überlebte. Die perfekte Szenerie für den Eingang ins Reich der Toten. Später wurde daraus der Einstieg in die Hölle in Dantes «Göttlicher Komödie». Dafür verbürgte sich kein anderer als Galileo Galilei, der Vorreiter der modernen Wissenschaft. An einem Vortrag, den er 1588 vor der Florentinischen Akademie gehalten hat, präsentierte er entsprechende mathematische Berechnungen, die diese Behauptung untermauerten.
Unweit des Lago d’Averno errichteten die Griechen das sagenumwobene Städtchen Cuma. Die letzte nördliche Bastion vor dem Feindesland der Etrusker und damit strategisch wichtig. Von Cuma sind Ruinen geblieben, die heute während des ganzen Jahres besichtigt werden können. Glanzstück ist der auf einem Hügel vorgelagerte Tempelbezirk, der dem Sonnengott Apoll und Demeter, der Göttin des Ackerbaus, gewidmet war. Zuvor war der Ort vermutlich eine Kultstätte matriarchaler Gesellschaften gewesen, die der Muttergöttin huldigten.
Seefahrer suchten vor Expeditionen das Orakel der Sibilla auf
Berühmt wurde Cuma durch die Anwesenheit der Sibilla, eines Orakels wie in Delphi. Hier holten sich die Seefahrer Rat und den nötigen Mut für ihre Expeditionen ins Feindesland. Gemäss führenden Archäologen hat die Sibilla im Antro gewirkt. Das ist ein 130 Meter langer Tunnel, der in den Berg hineinführt und die Besuchenden schrittweise auf die Begegnung mit der weissagenden Prophetin vorbereitete, indem dort mehrere Rituale der Reinigung vorgenommen wurden.
Einzigartig an der Konstruktion sind die dreizehn Türen, die seitlich angelegt sind und je nach Tageszeit mehr oder weniger Licht hereinlassen. Der beste Zeitpunkt für den Besuch ist der Abend, kurz vor Sonnenuntergang, wenn das Licht horizontal eintrifft – und rund um die Tagundnachtgleiche. Dann ist das Lichtspiel maximal. Der Tunnel ist dazu exakt gegen Norden gerichtet und empfängt die Sonne durch die dreizehn westlichen Öffnungen.
Francesco Escalona ist überzeugt, dass diese weltweit einzigartige Konstruktion noch viele Geheimnisse birgt. In all seinen Büchern ist er bemüht, der Wissenschaft neue Impulse zu vermitteln. Er ist zum Beispiel sicher, dass die Sibilla an einem anderen Ort wirkte, tiefer im Untergrund des Berges. Und zwar an einem nicht minder magischen Schauplatz, wo das Licht durch lange Schächte einfällt. Durch die spezielle Bauweise fällt kein Schatten in den Bauch des Bergs. Stellt man sich dort hin, sieht es aus, als ob man schweben würde. Ein optischer Effekt, der dem Kult der Magierin gedient haben müsse, glaubt Escalona.
Der Antro wiederum war gemäss Francesco Escalona eine Art überdimensioniertes Messinstrument, um im Winter und Sommer den exakten Zeitpunkt der Tagundnachtgleiche zu bestimmen. In diesen damals heiligen Momenten brachten die Menschen Saatgut aus, wovon sie sich eine erhöhte Fruchtbarkeit erhofften. Bislang konnte sich Francesco Escalona allerdings mit seinen Thesen in der Fachwelt noch wenig Gehör verschaffen. Das hängt damit zusammen, dass er ein studierter Architekt ist und «nur» ein Hobbyarchäologe. Italien pflegt in solchen Dingen ein strenges Kastensystem.
Der Tempelberg von Cuma ist ein Lava-Dom; durch die Eruption von zähflüssiger Lava entstanden. Keine Frage: Er ist das Glanzstück der Campi Flegrei. Die Aussicht auf die Bucht von Neapel und die davorliegenden Inseln ist atemberaubend. Zu Füssen des Hügels erstreckt sich ein einsamer Sandstrand mit einem weitläufigen, dichten Wald aus Steineichen. In Mainächten tanzen hier Millionen von Leuchtkäfern. Ein wahrlich paradiesischer Flecken! Der Grund, weshalb das bis heute so ist: Genau an dieser Stelle läuft Abwasser aus Neapel ungeklärt ins Meer. Das hält die Menschen fern.
Ein historischer Schatz aus der römischen Zeit
Der Museumspark der Phlegräischen Felder bietet neben Cuma mehr als ein Dutzend weitere Schauplätze, die man mit einem einzigen Ticket besuchen kann. Zahlreich vertreten sind die Objekte aus der Römerzeit. Die Phlegräischen Felder waren nämlich für die Römer lange ein bedeutender strategischer Ort, speziell für den Handel. Der Hafen des heutigen Pozzuoli war ein wichtiger Umschlagplatz für Eisen, Kupfer, Gewürze, Sklaven, Raubtiere und vieles mehr. Der Fuss der Vulkane: ein pulsierender Umschlagsplatz, der bis zu Augustus, Cäsars Grossneffen, bedeutender war als Rom selbst.
Die Campi Flegrei wurden zur Wellness-Zone der Römer
Die Römer brachten auch das Dolcefarniente in die Campi Flegrei. Sie errichteten hier prächtige Villen, in denen sie, betreut von einer grossen Schar Sklaven, die Sommermonate verbrachten. Sie liessen Thermal- und Schwefelbäder bauen, gespeist aus dem weiterhin aktiven vulkanischen Untergrund. Die Stufe di Nerone, Neros Öfen, sind eine öffentliche Therme aus jenen Zeiten, die heute noch besucht werden kann. Die Campi Flegrei wurden damals zu einer riesigen Wellness-Zone. Und weil sie den Ort mit purem Glück verbanden, tauften sie ihn «campo felix».
Ein glückliches Feld ist dieses vulkanische Gebiet bis heute geblieben; trotz der permanenten Gefahr eines Ausbruchs – oder vielleicht gerade deswegen? Besucht man Städtchen wie Pozzuoli, Baia oder Bacoli mit ihren Gässchen, grosszügigen Plätzen, den Kaffeebars und Fischrestaurants, fällt auf, wie hübsch herausgeputzt sie sind. Man findet kaum Abfall auf der Strasse. Alle Gemeinden haben vor längerer Zeit die Mülltrennung eingeführt – und sie funktioniert!
Auch auf den Strassen im ganzen Gebiet der Campi Flegrei geht es erstaunlich zivilisiert zu und her. Im Strassenverkehr wird der Vortritt respektiert, das Tempo eingehalten. Das chaotische, teilweise dreckige und gefährliche, aber auch faszinierende Neapel scheint weit weg zu sein. Dabei sind es, wie geschrieben, nur zwanzig Kilometer Distanz. «Die Campi Flegrei sind eine Welt für sich», bestätigt Escalona.
Archäologische Funde aus viertausend Jahren
Zu den aussergewöhnlichen Plätzen zählt auch Rione Terra, eine klitzekleine Hügelsiedlung am Meer, wenige Schritte vom Hafen von Pozzuoli entfernt. Eine Geisterstadt, seit über fünfzig Jahren unbewohnt. Als dort nämlich zwischen 1969 und 1972 die Erde immer wieder bebte und Gebäudeteile zum Einstürzen brachte, wurde die Bevölkerung zuerst evakuiert, danach gar enteignet, weil ein Zurück zum Status quo unmöglich schien. Die Sanierungsarbeiten laufen derzeit und befinden sich in den letzten Zügen.
Eine lange und komplexe Angelegenheit. Wird in den Campi Flegrei auch nur ein winziger Stein versetzt, kann man darauf wetten, dass das archäologische Fundstücke zutage bringt. Im Untergrund von Rione Terra hatte sich im Verlauf der Jahrtausende derart viel angesammelt, dass eine spezielle Lösung gefunden werden musste: Unter den bestehenden Gebäuden wurden mächtige Stahlgerüste errichtet, die den Häusern Halt geben und die Möglichkeit eröffnen, darunter weiter in die Tiefe zu graben, um die weiteren Schichten freizulegen. Wenn alles fertig ist, wird man diese neu dazugekommenen Welten aus griechischen und römischen Vorzeiten auf unterirdischen Gehwegen bestaunen können. Das wird voraussichtlich in diesem Jahr der Fall sein.
Ein Spaziergang durch die engen Gässchen von Rione Terra lohnt sich schon heute. Immer wieder lockt die Aussicht aufs Meer, auf die Krater, die Siedlungen. Höhepunkt des Rundgangs ist der frisch restaurierte Dom, bei dem nach einem Brand antike Säulen eines griechischen Tempels zum Vorschein gekommen sind. Im Städtchen haben sich einige Läden, Galerien und Souvenirshops eingemietet. Die weiteren Nutzungen müssen noch definiert werden. Geplant waren einmal Hotels und Pensionen, aber dagegen gibt es Widerstand in der Bevölkerung. Am Abend wird Rione Terra jeweils mit einem grossen Gitter abgesperrt, um Vandalen und Diebe auszuschliessen, die Jagd auf archäologische Fundstücke machen.
Zurück zum Lago d’Averno. Die letzte Station der Tour durch die Phlegräischen Felder, der Kreis schliesst sich. An den Gestaden des Sees hat sich Gabriella Barbati niedergelassen. Die Unternehmerin führt dort mit ihrer Schwester Fabiana auf dem Grundstück des Grossvaters die Masseria Sardo, einen sogenannten Agriturismo mit Restaurant, Zimmervermietung, Gemüsegarten, Ackerbau und einem weitläufigen Hain mit Zitrusfrüchten.
Als Gabriella Barbati hier die Arbeiten aufnahm, war alles verwaist; das Gebiet um den See herum verwahrlost. Der Umbau reihte sich ein in eine grosse Welle von Aufwertungsprojekten im ganzen Gebiet der Phlegräischen Felder. Die meisten haben schon in den neunziger Jahren begonnen, nach einer weiteren Serie von heftigen Beben. Als ob der unsichtbare Vulkan, aus seinem Versteck im Untergrund heraus, die Menschen antreiben würde, das Beste aus dem gelobten Land herauszuholen.
Wie so viele sieht Barbati den Supervulkan nicht als Bedrohung: «Das hier ist mein Zuhause, und der Vulkan gehört dazu. Er ist Teil der Familie.» Sorgen bereitet ihr nur die Aussicht, gegen ihren Willen die Heimat verlassen zu müssen. Die derzeitige italienische Regierung hat nämlich einen Evakuierungsplan ausarbeiten lassen, der im Fall einer erhöhten Gefahr einsetzt.
Derzeit gilt Stufe Gelb, wechselt sie zu Orange, wird empfohlen, das Gebiet zu verlassen. Bei Rot ist es Pflicht. Wer ihr nicht nachkommt, den holt das Militär zu Hause ab. Jedes Gebiet in den «Feldern» wurde einer anderen Region zugewiesen. Gabriella Barbati müsste gemäss diesem Plan in die Lombardei ziehen. «Unvorstellbar!», sagt sie.
«Geht der Vulkan wirklich los, dann ist genau hier doch der beste Ort, um alles mit einem grossen Feuerwerk zu beenden!», sagt sie ohne Spur von Ironie. Angst vor dem Tod habe sie nicht. Vor dem hässlichen Leben in der Fremde, im Norden Italiens, hingegen schon.
Man merkt schon: Wer auf dem Vulkan lebt, kann kein Waschlappen sein.