Wir sind Tiere mit Vernunft, aber auch unseren Trieben ausgesetzt. Nirgendswo ist das offensichtlicher als bei der Fettleibigkeit.
Lebte Oscar Wilde heute, müsste er sich wohl ein anderes Leitthema suchen. «Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht» gilt zu Zeiten von Ozempic und Co. vielleicht bald nicht mehr.
Um das Diabetes-Medikament Ozempic und ähnliche Präparate ist in den letzten Jahren ein Hype entstanden. Denn es senkt nicht nur den Blutzuckerspiegel, sondern hemmt auch den Appetit. Und hilft dadurch beim Abnehmen. Das hat dem Medikament so viel Aufmerksamkeit beschert, wie das zuletzt der Fall war, als Viagra auf den Markt kam und Männern die Erlösung von Erektionsproblemen versprach.
In den USA nehmen inzwischen mehr als 7 Millionen Menschen ein Abnehmmedikament mit dem Wirkstoff Semaglutid. Gemäss Schätzungen dürften es in den nächsten zehn Jahren über 20 Millionen sein. In der Schweiz sind es laut dem neusten Arzneimittelbericht inzwischen rund 80 000 Menschen.
Je mehr Menschen das Medikament einnehmen, desto häufiger hört man aber von überraschenden Nebeneffekten: Nicht nur der Appetit nimmt ab – viele geben an, plötzlich keine Pommes mehr zu mögen, Schokolade als viel zu süss zu empfinden, Kaffee nicht mehr zu geniessen und kaum noch Alkohol zu trinken. Oder es nach vielen erfolglosen Versuchen geschafft zu haben, mit dem Rauchen aufzuhören. Weitere beobachtete Nebenwirkungen sind: seltener Lust auf Sex oder kaum mehr einen Orgasmus. Einige shoppen weniger online, spielen keine Glücksspiele mehr oder haben aufgehört, Nägel zu kauen.
Alles nur Zufall? Oder ist Ozempic eine Art Askese auf Verschreibung?Und was bedeutet das nicht nur für den einzelnen Blick auf die Waage, sondern für eine Gesellschaft, in der Genuss das soziale Zusammenleben prägt?
Jahrtausendelang passten Instinkte und Umwelt zusammen
Um zu verstehen, wie ein Diabetes-Medikament zur grössten Lifestyle-Sensation der letzten Jahre wurde, muss man ganz an den Anfang, zum Ursprung unseres Verlangens gehen. Dass in den westlichen Gesellschaften jeder zweite Mensch zu dick ist und viele Menschen mit dem Abnehmen kämpfen, hat nicht nur mit dem Nahrungsmittelüberfluss zu tun, sondern auch mit unserem evolutionsbiologischen Erbe.
Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir nicht alle ständig zu viel essen: Unser Gehirn regelt Gewicht und Nahrungsaufnahme wie ein Thermostat, der die Temperatur in einem Haus konstant hält. Verbrauchen wir Energie, legt der Körper neues Brennmaterial nach: Kohlenhydrate, Fette, Proteine.
«Ich habe weniger Appetit auf fettiges Zeug und mehr auf Gemüse, Salat, Frisches. Früher mochte ich Pommes und Currywurst gerne. Mit dem Medikament hatte ich danach keinerlei Verlangen.»
Monika*, Berlin, von 86 auf 68 Kilo
Damit wir genügend Brennmaterial zur Verfügung haben, legt unser Körper Vorräte an. Wenn wir Kohlenhydrate, Fette oder Proteine essen, signalisiert der Verdauungstrakt dem Gehirn deshalb direkt: Davon will ich mehr. Das Belohnungszentrum im Hirn wird aktiviert. Wie zentral dieser Mechanismus ist, zeigte ein Experiment mit Ratten: Zerstört man ihre Fähigkeit, Dopamin zu produzieren (einen der zentralen Botenstoffe im Belohnungszentrum), verhungern sie. Erfährt das Hirn beim Essen keinen Belohnungsreiz, sehen die Ratten keinen Grund, auf Nahrungssuche zu gehen.
Jahrtausendelang funktionierte dieses System perfekt für uns. Die Instinkte waren der Umwelt ideal angepasst. Überessen ging gar nicht; denn so viel Essen war gar nicht da.
Heute aber gibt es Nahrung im Überfluss. Wir müssen weder Wildschweine jagen noch Früchte von Bäumen holen. Dazu bewegen wir uns alle kaum mehr genug. Eine äusserst schlechte Kombination mit dem energiereichen Essen, das wir heute haben – und von dem uns die Nahrungsmittelindustrie gerne möglichst viel verkaufen will.
Zucker ist das Methamphetamin, Fett das Opiat
Uns zu einer weiteren Handvoll Chips oder einem Pizzastück mehr als nötig zu verführen, ist ziemlich einfach: Dafür nimmt die Nahrungsmittelindustrie Inhaltsstoffe, die wir am meisten lieben, raffiniert sie und stellt sie in Kombinationen zusammen, die unwiderstehlicher wirken als alles, was uns in der Natur begegnet. Es ist ein bisschen wie mit Kokablättern. Die kauen Menschen schon lange, um wacher zu werden. Das daraus raffinierte Kokain durchströmt den Körper binnen Sekunden. Und dieser Kick macht abhängig.
«Zucker ist das Methamphetamin der verarbeiteten Lebensmittelzutaten, während Fett das Opiat ist», schreibt der amerikanische Journalist und Food-Experte Michael Moss in seinem Buch «Hooked» zur Macht der Lebensmittelindustrie über unser Verlangen. Fügt man dem Produkt noch Salz hinzu, löst das bei uns die grösstmöglichen Glücksgefühle aus. Kein Wunder, berauschen verarbeitete Lebensmittel wie Chips, Softgetränke oder Tiefkühlpizza das Belohnungszentrum ähnlich wie Alkohol oder Zigaretten.
«Dieser typische Fettgeruch finde ich jetzt richtig eklig. Es ist, als wäre meine Wahrnehmung intensiver geworden, meine Sinne feiner.»
Sebastian Peter, München, von 175 auf 145 Kilo
Das Resultat: Übergewicht ist in westlichen Gesellschaften weit verbreitet. In der Schweiz sind laut Zahlen des Bundes 43 Prozent der Menschen über 15 Jahre übergewichtig, jeder Achte leidet an Adipositas. Und das sind vergleichsweise tiefe Zahlen. In den USA zum Beispiel gelten inzwischen drei Viertel der Menschen als übergewichtig.
Betroffene hören noch immer, sie hätten nicht genügend Selbstdisziplin, müssten bloss gesünder essen, ein bisschen mehr Sport treiben. Doch Abnehmen ist für viele Menschen extrem anstrengend – und hat auch viel mit den genetischen Voraussetzungen und dem individuellen Stoffwechsel zu tun. Unser Körper ist darauf gepolt, das Gewicht zu halten. Dafür zu sorgen, dass wir satt werden, ist ein Urinstinkt. Es ist ein ungleicher Kampf gegen eine Industrie, die das ausnutzt – kein Wunder, erhoffen sich viele von Semaglutid die Erlösung.
Doch das Ausmass der Verführungen in der modernen Welt ist noch viel grösser. Und die Hoffnungen auf die neuen Medikamente entsprechend auch.
Denn für fast jeden unserer Urinstinkte gibt es heute eine Industrie, die ausnutzt, dass wir der sekundenschnellen Befriedigung dieses Instinkts kaum widerstehen können. Social Media befriedigen den angeborenen Wunsch nach Zugehörigkeit, Pornografie die intuitive Lust auf Sex.
Die Stanford-Professorin und Suchtmedizinerin Anna Lembke nennt das Dopamin-Ökonomie: eine Wirtschaft, die uns überall und jederzeit den nächsten Belohnungshormonschuss offeriert. Wie ständiges «all you can eat» im Süsswarenladen, «all you can drink» im Getränkehandel, «all you can imagine» im Netz.
Lembke behandelt seit zwanzig Jahren Menschen, die süchtig sind – nach Alkohol, Heroin, Social Media, Shoppen, Schmerzen oder Orgasmen. Und beobachtet, dass die Suchtvarianten vielfältiger und die Zugänge zu den Rauschmitteln immer einfacher werden. Sie schreibt in ihrem Buch «Die Dopamin-Nation»: «Das Angebot hat eine Nachfrage geschaffen, und wir alle sind dem Strudel zwanghaften Überkonsums zum Opfer gefallen.» Wobei schon das Konsumieren selbst zu einer Droge geworden sei – siehe Online-Shopping-Süchtige.
In dieser Welt der unendlichen Verlockungen brauchten wir jedes Mittel, das wir kriegen könnten, um diesen zu widerstehen, meint sie. Zum Beispiel auch Ozempic. Lembke hält die Abnehmmedikamente für vielversprechend, um Menschen bei der Überwindung ihrer Sucht zu helfen.
Denn: Semaglutid verändert auch die Ausschüttung von Dopamin. Das wäre eine Erklärung dafür, warum Patienten nicht nur Essen, sondern auch Alkohol oder Rauchen als weniger belohnend empfinden und dadurch auch das antizipatorische Verlangen weniger spüren. Vereinfacht gesagt, kann Semaglutid die Vorfreude hemmen. Eine Studie mit Mäusen zeigte gar, dass diese weniger Heroin konsumierten, wenn sie das Sättigungshormon gespritzt bekamen.
Die Instinkte unserer Evolution, gepaart mit perfektionierten Befriedigungsindustrien, bringen uns in einen stetigen Willenskampf. In einer Welt, die keine Knappheit mehr kennt, wird Widerstandskraft zum Hüter der eigenen Gesundheit, physisch wie psychisch. Es gewinnt den Kampf, wer die Knappheit selbst wiederherstellen kann.
«Kürzlich bin ich an Wassermelonen vorbeigegangen und hatte plötzlich so Lust auf Gurke oder Wassermelone, obwohl eigentlich noch gar nicht Saison ist. Ich trinke auch viel mehr Tee. »
Alice, München, von 85 auf 80 Kilo
Doch welche Chancen wir in dem Kampf gegen die Verlockungen haben, ist auch eine Frage der Genetik: wie die Chemie in unserem Körper funktioniert. Bisher wurden jene verurteilt, die diesen Kampf allzu offensichtlich zu verlieren scheinen: die Süchtigen, die Dicken. Haben sie mit Semaglutid eine neue Waffe in die Hand bekommen?
Diejenigen, die es ausprobiert haben, berichten auf jeden Fall Erstaunliches. Die Medikamente liessen die kleine Stimme im Hirn verstummen, die nach Snacks zu rufen beginnt, wenn sich die Arbeit zäh dahinzieht. Oder nach etwas Süssem, sobald man abends auf dem Sofa sitzt. Nach der Spritze sei dieses fordernde Rauschen weg gewesen – und Platz im Hirn, um gesündere Lebensgewohnheiten einzuführen.
Der Wirkstoff von Ozempic sowie den in der Schweiz zugelassenen Abnehmmedikamenten wie Wegovy und Saxenda ahmt ein körpereigenes Hormon nach: Glucagon-like Peptide 1, kurz GLP-1. Es wird in unserem Darm produziert und senkt unter anderem den Blutzuckerspiegel. Deshalb wurde es zuerst als Diabetes-Medikament zugelassen. Doch GLP-1 verlangsamt auch die Magenentleerung und verstärkt das Sättigungsgefühl. Meinte man zumindest lange.
Doch Patientinnen und Patienten berichten, dass sie sich nicht nur schneller satt fühlen, sie haben tatsächlich generell weniger Lust, zu essen. Und wenn, dann auch auf andere Lebensmittel: lieber Vollkorn statt hochverarbeitet, frische Früchte statt Süssigkeiten, ballaststoffreiche Produkte statt schnell verfügbarer Kohlenhydrate, Fette und Zucker.
«Seit ich Wegovy nehme, mag ich keinen Wein mehr. Und das, obwohl meine Partnerin Weinhändlerin war und wir immer gerne ein gutes Glas Wein getrunken haben.»
Jürg Willi, Aarau, von 107 auf 92 Kilo
Auch andere Suchtmittel seien weniger attraktiv: Kaffee, Zigaretten, Alkohol. Die Adipositasärztin Susanne Maurer berichtet von Patienten, «die werden vom Trinker, der eine Flasche Wein am Tag kippt, fast abstinent – also für ihre Verhältnisse. Das ist beeindruckend.»
Das «I don’t enjoy burgers anymore»-Syndrom ist umstritten
Bis hierhin klingen diese Nebenwirkungen, die unser Verlangen im Zaum halten, durchaus positiv. Doch unser Belohnungszentrum steuert nicht nur das Verlangen nach Essen oder Rauschmitteln. Sondern auch nach Sex. Und auch dieses scheinen die GLP-1-Medikamente bei einigen Patientinnen und Patienten zu mindern. Zumindest legen das Berichte sowie erste Studien nahe. Und das, obwohl sich eine Verringerung des Übergewichts prinzipiell positiv auf die Sexualität auswirkt.
«Mich erinnert die Wirkung an jene von Antidepressiva. Es ist einfach alles ein bisschen gedämpft. Ich hatte zwar noch Lust und Sex – aber keinen Orgasmus mehr.» Monika*, Berlin, von 86 auf 68 Kilo
Es gibt aber auch Wissenschafter, die ihre Zweifel an Berichten von frappanten Verhaltensänderungen haben. Einer davon ist Marco Bueter, ein Spezialist für Magenverkleinerungsoperationen. Ihn erinnern die jetzigen Berichte an ein Phänomen, das er und seine Kollegen schon 2008 beobachteten und «I don’t enjoy burgers anymore»-Syndrom tauften: Die Tatsache, dass operierte Patienten in die Praxis kamen und etwas wehmütig berichteten, dass ihnen Burger nicht mehr schmecken. Daneben überforderte Partner, die klagten, sie wüssten nicht mehr, was kochen.
Heute weiss man, dass Menschen nach einer Magenbypass-Operation nicht einfach aus Platzmangel weniger essen, sondern weil sie weniger Appetit haben. Die OP wirkt sich indirekt auch im Gehirn aus – weil durch den veränderten Verdauungsweg die Produktion des Sättigungshormons GLP-1 angeregt wird. Ozempic und Co. kann man auch als Versuch sehen, die Magenverkleinerung durch Medikamente zu simulieren.
Bueter wollte herausfinden, ob das «I don’t enjoy burgers anymore»-Syndrom damit zu tun hat, dass sich die Vorlieben der Patienten ändern. Er entwickelte mit anderen Forschern einen Drinkometer, der misst, wie schnell, wie viel und wie gierig jemand verschiedene Flüssigkeiten trinkt. Bei Magenbypass-Operierten konnte er damit keine veränderten Vorlieben nachweisen. Die Leute konsumierten nur insgesamt weniger. Nun untersucht Bueter, ob es bei den GLP-1-Medikamenten anders ist. Es würde ihn überraschen.
Bueter warnt deshalb davor, zu viel auf Studien zu geben, die auf Berichten basieren. Denn hier würden Menschen befragt, die ihr Leben lang be- und verurteilt worden seien aufgrund dessen, was sie gerne ässen. «Und jetzt kommt da plötzlich ein Weisskittelforscher und fragt: Und, schmeckt der Kuchen noch? Mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen mir die Leute nicht, was sie wirklich denken. Sondern das, von dem sie glauben, dass ich es hören möchte.»
Es ist aber auch möglich, dass sich die Präferenzen im Labor nicht ändern, im Alltag aber schon. Denn gerade Übergewichtige wissen sehr genau, was sie essen sollten. Doch das Verlangen nach Essen ist so überwältigend, dass sie es nicht schaffen, sich daran zu halten. Viele Nutzer von GLP-1-Medikamenten sind ihr Leben lang an Diäten gescheitert. Für sie ist das Medikament eine Befreiung.
Ist das unscheinbare Semaglutid also das Ende unseres Daseins als ständig geprüfte Konsumopfer?
Die Gesellschaft im Überfluss domestiziert die Lust
Lebt eine Gesellschaft im Überfluss, ist es wenig erstaunlich, dass Verzicht zum neuen Ideal wird; Leute machen für viel Geld Ferien im Fastenhotel oder üben sich in digitalen Auszeiten im Schweigekloster. Bars müssen heute eine ganze Palette an alkoholfreien Getränken anbieten, weil die Nüchternheit inzwischen lange über den Januar hinaus praktiziert wird. Und im Supermarkt sind die Regale mit gluten- und zuckerfreien Produkten nicht nur für Menschen mit Zöliakie oder Diabetes massiv ausgebaut worden. Wenn man ständig alles haben kann, wird das bewusste Nicht-mehr-haben-Wollen zum angestrebten Ziel einer selbstoptimierten Gesellschaft.
Der Genussforscher und Ernährungssoziologe Daniel Kofahl wertet diesen Trend zum Verzicht als «Unbehagen, mit dem die Gesellschaft auf die Genusswelt schaut, die sie selber geschaffen hat». Eine Abkehr vom lustgetriebenen Genuss, dem wir wegen unserer Instinkte ausgeliefert sind.
Dabei spiele Genuss seit je eine zentrale Rolle im Leben der Menschen, sagt Kofahl. Seit Jahrtausenden geniessen wir Essen, Rauschmittel, Sex. Doch sind da stets die zwei Seiten der Medaille: Genuss bringt Kulturgüter hervor, an denen wir uns erfreuen, die Gemeinschaft bilden, über die wir uns identifizieren. Aber eben auch solche, die uns in der Form des Exzesses selbst gefährden – sowohl als Individuum als auch als Gesellschaft.
Die neuen Abnehmmedikamente bieten das Versprechen, uns von dem Moment zu befreien, in dem Genuss zum Laster wird. «Wenn man Verzicht medikamentös über die Blutbahnen in den Menschen injizieren kann, rationalisieren wir die Lust raus», sagt Kofahl. Sie wird plan- und kontrollierbar und dadurch domestiziert.
«Ich war immer ein Gourmet, ich habe gerne fein gegessen. Als ich mir Wegovy zu spritzen begann, war plötzlich die Freude am Essen komplett weg.»
Jürg Willi, Aarau, von 107 auf 92 Kilo
Zwar steht die Forschung noch ganz am Anfang, Langzeitfolgen sind noch ungewiss. Und, das muss an dieser Stelle auch gesagt sein, die Wirkung der GLP-1-Medikamente unterscheidet sich sehr von Mensch zu Mensch. Bei vielen lässt sie nach einer gewissen Zeit nach, und das Verlangen nach Essen kommt zurück, wenn man die Dosis nicht immer wieder erhöht. Und wie jedes andere Medikament können auch GLP-1-Präparate Nebenwirkungen haben: Übelkeit, Durchfall, Verstopfung, Kopfschmerzen, Herzrasen – bei manchen sind diese so heftig, dass sie die Behandlung abbrechen.
Doch Semaglutid hat quasi als medikamentöser Kickstarter des Nicht-mehr-haben-Wollens schon heute das Potenzial, die Gesellschaft und die Wirtschaft merklich zu verändern.
Darauf weisen nicht nur die Berichte hin, das bestätigt auch der Chef des amerikanischen Lebensmittelriesen Walmart gegenüber Bloomberg. Kunden, die GLP-1-Medikamente nehmen, kaufen anders ein: kleinere Mengen, weniger Kalorien. Die Snackindustrie kämpft mit Verkaufsrückgängen.
Darüber sprechen will aber niemand so wirklich. Die Branche hält sich sehr bedeckt. Nur bei Nestlé ist man bereit für ein Gespräch, der Pressesprecher betont sogleich, dass das Unternehmen nicht so betroffen sei. Schliesslich stelle man vor allem Säuglingsnahrung, Maggi, Kaffee und Tierfutter her, weniger Fast Food und Snacks.
Ein neuer Kampf ums Verlangen ist lanciert
Das Unternehmen rechnet sogar damit, dass es in der Gesundheitssparte profitieren könnte. Das zumindest sagt sein Chefwissenschafter, Hans-Jürgen Wörle, ein Arzt, der zuvor in der Pharmabranche tätig war: «Wir müssen aufhören, diese Medikamente als Risiko zu sehen. Es ist eine Riesen-Opportunity.» Nestlé, so seine Vision, könne den Menschen beim Abnehmen helfen – wie man es schon seit Jahrzehnten tue.
Nestlé hat Produkte in der Pipeline, um das zu kompensieren, was bei Kitkat und Tiefkühlpizza wegfallen könnte: Protein-Drinks, Nahrungsmittel, welche die Nebenwirkungen von Semaglutid verringern. Und kleinere Portionen: Schokolade in Riegelform statt als grosse Tafel. Chips in kleinen statt Jumbo-Tüten. Man entwickle Nahrungsmittel, die «verstärkte Sättigung» hervorriefen, ein Völlegefühl und Zufriedenheit, damit man nicht nach einer Stunde schon wieder Heisshunger auf etwas Neues habe.
Die Adipositasärztin Maurer kann darüber nur lachen. «Satt und gesund macht eine frische, schöne Karotte, wie man sie in jedem Laden kriegt. Aber damit lässt sich eben kein Geld verdienen.» Maurer traut der Nahrungsmittelindustrie nicht über den Weg. Sie ist nicht die einzige Gesprächspartnerin, die sie mit der Tabakindustrie vergleicht. Und sogar der Nestlé-Chefwissenschafter spricht an, dass «bestimmte grosse Getränkehersteller mit Produkten mit hohen Zuckeranteilen eine massgebliche Rolle in der Fettleibigkeits-Epidemie spielen».
Ein neuer Kampf ums Verlangen ist lanciert.
Und es gibt viele Industrien abseits von Lebensmitteln, die von Ozempic und Co. profitieren: Beauty-Eingriffe, um überfällige Haut und eingefallene Gesichtskonturen zu korrigieren, boomen. Es gibt neue Körperpflegeprodukte, die beim schnellen Gewichtsverlust die Elastizität der Haut stärken sollen. Fitnesszentren richten sich vermehrt auf Ozempic-Kunden aus, die während des Abnehmens auf den Muskelerhalt achten müssen. Ja selbst die Flugindustrie könnte profitieren, so wagen optimistische Wirtschaftsberater zu prophezeien, wenn das Durchschnittsgewicht der Passagiere sinke und so Kerosinkosten gespart werden könnten.
Wer aber allen voran profitiert, ist die Pharmaindustrie: Der Börsenwert des Ozempic-Herstellers Novo Nordisk wurde zeitweise höher geschätzt als das Bruttoinlandprodukt von Dänemark, wo das Unternehmen seinen Hauptsitz hat. Novo Nordisk verdient gut an unserem Kampf gegen die Übermacht der Industrien, die uns als genussgesteuerte Konsumentinnen und Konsumenten verführen.
«Das ist die merkwürdige Paradoxie des Verzichts in Zeiten von Ozempic», sagt der Soziologe Daniel Kofahl. «Heute kann man für alles, was man will, bezahlen – sogar dafür, dass man bestimmte Dinge nicht mehr will.» Genuss werde damit zu einem abgeklärten Rausch der Nüchternheit. Einem Genussflachland ohne Exzesse. «Was ja ambivalente Effekte für die Gesellschaft haben kann.»
Hatte Oscar Wilde also recht? Führte das am Ende zu einer Menschheit ohne Leidenschaft?
* Name geändert
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