Syriens Machthaber ist von Frankreichs Präsident empfangen worden. Der frühere Rebellenführer hat die Gewalt gegen Minderheiten in seinem Land nicht im Griff. Doch Paris sieht in Ahmed al-Sharaa einen potenziellen Stabilitätsfaktor.
Es passiert nicht alle Tage, dass ein Mann, der offiziell noch immer als Terrorist gilt, durch die Türen des Élysée-Palasts schreiten darf. Syriens neuer Machthaber Ahmed al-Sharaa wurde bisher nicht von den Terrorlisten der EU, der USA und des Uno-Sicherheitsrates gestrichen. So musste sich die französische Regierung für den Empfang des früheren Rebellenführers eine spezielle Ausnahmegenehmigung bei den Vereinten Nationen einholen.
Sharaa erschien am Mittwochnachmittag vor dem Pariser Präsidentenpalast – kurz nachdem der frisch gewählte deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz seinen Antrittsbesuch bei Emmanuel Macron absolviert hatte. Der Kontrast an diesem Tag hätte nicht schärfer sein können: Zuerst der enge Partner aus Berlin, der von Macron empfangen wurde wie ein alter Freund. Dann der umstrittene Gast aus Damaskus, für den die USA vor einigen Monaten noch ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt hatten.
Scharfe Kritik von rechts aussen
Für Frankreichs politische Rechte war die Einladung des syrischen Übergangspräsidenten ein Affront. Macron habe die Werte der Republik verraten und die Opfer des Jihadismus verhöhnt, wetterte der Chef des rechtsnationalen Rassemblement national Jordan Bardella. «Der rote Teppich im Élysée-Palast wird die Farbe des Blutes der Opfer des islamistischen Terrorismus haben», sekundierte der rechte Abgeordnete Éric Ciotti.
Gegen diese Kritik hatte sich der französische Präsident frühzeitig gewappnet. Aus dem Élysée hiess es, es gehe bei dem Treffen weniger um Anerkennung oder Aufwertung als um Realpolitik im Dienste der nationalen Sicherheit. Macron, der als erster europäischer Staatschef schon im Februar mit Ahmed al-Sharaa telefoniert und ihn zu einem Besuch nach Paris eingeladen hatte, verkündete mehrfach, er werde den syrischen Führer «nach seinen Taten» und «ohne Naivität» beurteilen.
«Den Dialog mit den syrischen Übergangsbehörden nicht aufzunehmen, wäre unverantwortlich gegenüber den Franzosen, und vor allem wäre es ein roter Teppich für den IS», argumentierte am Mittwoch auch Jean-Noël Barrot, der französische Aussenminister. Es sei doch klar, so Barrot, dass es zu Gesprächen mit Sharaa derzeit keine Alternative gebe, um das Land zu stabilisieren und beim Kampf gegen den Terrorismus, bei der Rückführung extremistischer Kämpfer und bei der Kontrolle von Migrationsströmen zusammenzuarbeiten.
Sharaa, der sich seit Monaten um ein gemässigtes und staatsmännisches Image bemüht, hatte jüngst mehrfach signalisiert, dass er offen sei für einen geordneten demokratischen Übergang. In Interviews sprach er von einem «pluralistischen Syrien», von «religiösem Ausgleich» und «Respekt vor der Zivilgesellschaft». In Paris trat er nach den jüngsten Kämpfen zwischen Drusen, Sunniten und Alawiten allerdings mit einem schweren Glaubwürdigkeitsproblem auf.
Allein im März wurden laut den Vereinten Nationen über 1700 Alawiten bei ethnischen Säuberungen getötet. Ende April kam es im Süden Syriens zudem zu schweren Gefechten zwischen Angehörigen der drusischen Minderheit und regierungsnahen Truppen. Die Gewalt gegen Syriens Minderheiten weckt Zweifel an Sharaas Fähigkeit, die im März gebildete Übergangsregierung sowie die neu formierten Sicherheitskräfte unter Kontrolle zu halten – vor allem mit Blick auf jene Einheiten, in denen nach wie vor radikale Kämpfer aktiv sind.
Mit der Begründung, die drusische Gemeinschaft vor einem möglichen Genozid schützen zu wollen, hat Israel seither wiederholt Ziele in Syrien angegriffen. Auch diese Entwicklung war am Mittwoch Gegenstand der Gespräche zwischen Macron und Sharaa: Für Frankreich sind die israelischen Luftangriffe ein Hindernis auf dem Weg zu einem stabilen Syrien. In Paris hiess es, dass die neue islamistische Führung in Damaskus zu einem möglichen Friedensschluss mit Israel grundsätzlich bereit sei. Zu den Bedingungen gehörten allerdings die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates und die Rückgabe der von Israel seit 1967 besetzten Gebiete, also auch der syrischen Golanhöhen.
Strategisch wichtiger Hafen
Für Frankreich ist die Annäherung an das neue Regime in Damaskus wichtig, um Einfluss auf einen möglichen Übergangsprozess in Syrien zu nehmen, aber auch um sich frühzeitig Zugang zu potenziellen Wirtschaftsprojekten zu sichern. Dazu gehört ein 30-Jahres-Vertrag zur Entwicklung und zum Betrieb des Hafens von Latakia, den der französische Reedereikonzern CMA CGM kürzlich mit der syrischen Regierung abgeschlossen hat. Er sichert Frankreich einen Zugang zu syrischen Handelsrouten und stärkt seine Präsenz im Mittelmeer.
Man habe eine historische Verantwortung gegenüber dem syrischen Volk, sagte Macron am Mittwoch. Als ehemalige Mandatsmacht und bis heute wichtiges Tor Syriens nach Europa sehe sich Frankreich in der Pflicht zu handeln. In diesem Zusammenhang wurde unlängst auch ein neuer Geschäftsträger für die seit 2012 geschlossene französische Botschaft in Damaskus ernannt. Spätestens wenn es ernst wird mit dem Wiederaufbau in Syrien, will Paris offenkundig ganz vorne mitspielen.