Der Handelsökonom Simon Evenett sagt, warum die US-Regierung im Zollstreit mit China als Erstes einknicken dürfte. Schon in den nächsten Wochen erwartet er Lieferengpässe in den Vereinigten Staaten.
Herr Evenett, J. D. Vance, der amerikanische Vizepräsident, hat kürzlich gesagt, die USA würden sich Geld von chinesischen Bauern leihen, um damit Waren zu kaufen, die andere chinesische Bauern herstellten. Was verrät die Äusserung über den Zustand des Welthandels?
Simon Evenett: Das Statement sagt mehr über die innenpolitische Lage in den USA als über den Welthandel aus. J. D Vance. glaubt offenbar, dass es seiner Position innerhalb der republikanischen Partei nütze, wenn er sich über die Chinesen lustig macht. In Peking ist seine Äusserung sehr negativ aufgenommen worden – und sie dürfte die chinesische Verhandlungsposition verhärtet haben. Möglicherweise pochen sie nun noch stärker darauf, dass Präsident Trump seine Zölle senkt, bevor es zu ernsthaften Gesprächen kommt.
Die USA und China verhandeln an diesem Wochenende in Genf über eine Deeskalation im Handelskrieg. Wer sitzt am längeren Hebel?
Trump steht unter deutlich grösserem Druck, den Konflikt zu entschärfen. Natürlich schmerzen die amerikanischen Zölle die chinesische Wirtschaft – aber wie ihre Exportzahlen aus dem April 2025 zeigen, findet China zunehmend neue Kunden in Schwellenländern. Präsident Trump hingegen spürt einen wachsenden Druck der US-Politik und der Finanzmärkte, aus der Eskalationsspirale herauszukommen, die er selbst angestossen hat. Kurz gesagt: Derzeit stehen die Amerikaner stärker unter Zugzwang als die Chinesen.
Heisst das, Trump wird als Erster nachgeben?
Das ist wahrscheinlich – und womöglich geschieht es gerade. Doch ein endgültiges Abkommen ist nicht in Sicht. Im besten Fall zeichnet sich eine Art Waffenruhe ab. Ob daraus später ein tragfähiges Abkommen wird, ist eine ganz andere Frage. Die Chinesen werden jedenfalls ihren Präsidenten nicht für ein PR-Foto mit Präsident Trump nach Washington schicken. Solche Aktionen sind nicht ihr Stil – und nach der Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Oval Office dürften sie ohnehin abgeschreckt sein. Wenn es also zu einem Stillhalteabkommen kommt, dann wird das leise passieren.
Angenommen, die Entkopplung der amerikanischen und der chinesischen Wirtschaft setzt sich fort – was sind die Konsequenzen?
Die Zahl chinesischer Frachtschiffe, die in Richtung USA auslaufen, ist in den letzten sechs Wochen bereits um 40 bis 50 Prozent eingebrochen. An den Häfen an der amerikanischen Westküste wird es in den kommenden sechs Wochen viel ruhiger werden – es wird zu Engpässen und Verknappungen kommen.
Bei welchen Produkten erwarten Sie Engpässe?
Bei günstigen Konsumgütern – aber auch bei Bauteilen, die amerikanische Fabriken dringend brauchen. Das wird innenpolitisch schnell sehr ungemütlich für Donald Trump. Und genau deshalb steht sein Team so unter Druck, ein Einlenken zu signalisieren. Die kurzfristige Wirkung sind also Versorgungsengpässe in den USA – sehr sichtbar und überall in den Medien.
Was geschieht dann?
In einem nächsten Schritt werden gewisse chinesische Exporte, die früher in die USA gingen, auf andere Märkte umgelenkt. Das geschieht auch bereits: Der Export nach Indien, Afrika, Lateinamerika und Südostasien ist deutlich gestiegen. Und der dritte Effekt kommt wohl gegen Ende des Jahres: Dann beginnen Unternehmen, ihre globalen Produktionsstandorte zu überdenken. Wer bislang in China für den US-Markt produziert hat, wird sich Alternativen suchen.
Wer trägt eigentlich die Schuld an diesem Handelskonflikt? Ist es wirklich Donald Trump? Oder haben seine Vorgänger den Boden bereitet? Zölle gab es ja auch schon vor ihm.
Trump ist nicht die Hauptursache, sondern ein Brandbeschleuniger. Das Grundproblem liegt tiefer: Die amerikanische politische Elite – egal ob Republikaner oder Demokraten – hat es während Jahrzehnten nicht geschafft, der Bevölkerung die Vorteile des Welthandels zu erklären. Viele Amerikaner sahen nur Jobverluste, Unsicherheit, Drogenabhängigkeit und zerrüttete Familien. Es fehlte eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Anstatt den Menschen beim Jobwechsel zu helfen, hat man sie sich selbst überlassen. Das Resultat war ein riesiger Frust und eine heftige Gegenreaktion auf die Globalisierung.
Und welchen Anteil an der Misere trägt China?
Wenn man sich anschaut, wie viele Millionen Jobs in den USA jedes Jahr entstehen und wieder verschwinden, dann reicht das China-Narrativ allein schlicht nicht aus, um die Lohnstagnation der letzten Jahrzehnte zu erklären.
Aber China subventioniert seine Exporte im grossen Stil und verschafft sich damit doch einen unfairen Vorteil, oder?
Keine Frage: China hat seine Exporte gezielt gefördert – das ist Fakt. Die wichtigere Frage ist aber: Führen Subventionen wirklich zu wettbewerbsfähigen Unternehmen? Und die Antwort lautet: nein. Die unbequeme Wahrheit, die viele im Westen nicht wahrhaben wollen, ist: China hat massiv investiert – in Infrastruktur, in Bildung, in seine Lieferketten. Deshalb sind viele chinesische Industrien heute so konkurrenzfähig.
Das heisst, der Westen macht es sich zu leicht, wenn er alles auf die Subventionen schiebt?
Die westliche Kritik an den chinesischen Subventionen ist eine Ausrede, um eine unbequeme Debatte zu vermeiden. Aber genau diese Debatte brauchen wir in Europa, wenn wir unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit wiederbeleben wollen. Wenn Subventionen automatisch zu erfolgreichen Unternehmen führten, dann gäbe es angesichts der grosszügigen staatlichen Hilfen in Europa wohl kaum stagnierende Lebensstandards in so vielen Ländern.
Ist eine Rückkehr zur alten Freihandelsära überhaupt noch denkbar?
Zurück in die Neunziger – das ist illusorisch. Wir stehen vor einer neuen Phase: mehr Unsicherheit, mehr Störungen und mehr Protektionismus. Aber gleichzeitig ist die Weltwirtschaft heute viel multipolarer als früher. Es entstehen neue Märkte, neue Kunden. Länder wie die Schweiz – aber auch Europa insgesamt – haben jetzt die Chance, ihre Exporte zu diversifizieren, sich sowohl von China als auch von den USA unabhängiger zu machen. Diese neue Weltordnung sollte nicht nur als Bedrohung gesehen werden, es ist auch eine Chance. Wir stehen nicht am Ende der Globalisierung – wir treten in ein neues Kapitel ein.
Der Liberalismus als Denkschule sieht im Welthandel einen Garanten für Frieden. Wird die Gefahr eines echten Krieges grösser, wenn dieser Handelskonflikt ungelöst bleibt?
Die Verbindung zwischen Handel und Frieden ist alt – und es ist durchaus umstritten. Im gegenwärtigen Fall gilt: Wenn China und die USA einander im Handel so wenig trauen, wie es gerade der Fall ist, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie sich im diplomatischen und militärischen Bereich vertrauen. Alles, was das Misstrauen weiter anheizt, gefährdet den Frieden.
Simon Evenett
Simon Evenett ist Professor für Geopolitik und Strategie an der IMD Business School in Lausanne. Er ist Gründer des St. Galler Stiftungsfonds «Für Wohlstand durch Handel» und Mitvorsitzender des Globalen Zukunftsrats für Handel und Investitionen des Weltwirtschaftsforums. In seiner Karriere hat er zu Handelskonflikten, Industriepolitik und der Rolle von Unternehmen in globalen Wirtschaftsprozessen geforscht. Vor seiner Tätigkeit an der IMD war Evenett Professor an der Universität St. Gallen und unterrichtete auch in Oxford und an der University of Michigan.