Charles Darwin zögerte, seine Gedanken über die Entstehung der Arten zu publizieren. Er hielt sie für zu brisant. Der erste Teil unserer Serie zu den grössten Erkenntnissen der Wissenschaft erzählt, wie die Welt trotzdem vom Prinzip der natürlichen Selektion erfuhr.
An einem Morgen im Juni 1858 traf in Charles Darwins Landhaus ausserhalb von London ein sorgsam verpacktes dünnes Paket ein. Es kam von Ternate, einer kleinen Vulkaninsel im Pazifik westlich von Neuguinea. Darwin erkannte sogleich die Handschrift seines Landsmanns Alfred Russel Wallace. Dieser verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er am anderen Ende der Welt seltene Tiere sammelte und als Präparate nach England schickte.
Darwin hatte ihn um die Häute asiatischer Hühnervögel gebeten. Doch im Paket fand er nichts dergleichen. Vielmehr enthielt es ein Schriftstück, das Darwins Lebenswerk zu zerschmettern drohte: In einem kurzen Aufsatz stellte Wallace seine Auffassung zur Evolution dar. Und die war mit Darwins noch unveröffentlichter Theorie der natürlichen Selektion nahezu identisch.
«Eine verblüffendere Duplizität der Ereignisse habe ich noch nie erlebt. Hätte Wallace das Manuskript meines Entwurfs in der Hand gehabt, er hätte keine treffendere Kurzfassung davon anfertigen können», schrieb der erschütterte Darwin noch am selben Tag einem Freund. Er fürchtete, den Anspruch auf seine Theorie zu verlieren, mit deren Veröffentlichung er seit zwanzig Jahren zögerte.
Darwin und Wallace hatten unabhängig voneinander den vielleicht wichtigsten Prozess der Biologie entdeckt. Beide Forscher hatten auf jahrelangen Weltreisen einen riesigen Erfahrungsschatz in der Natur gesammelt. Beide hatten vom Geologen Charles Lyell gelernt, dass Veränderungen in der Erdgeschichte äusserst langsam verlaufen. Und die entscheidende Inspiration fanden beide in einem ökonomischen Essay über die Bevölkerungsentwicklung der Menschheit. Doch nur einer der beiden sollte zu Weltruhm gelangen.
So funktioniert das Prinzip der natürlichen Selektion
Alles begann damit, dass sich der junge Charles Darwin – noch ganz gottesgläubig – an der Cambridge University einschrieb, um sich zum Pfarrer auszubilden. Während des Studiums entdeckte er die Naturtheologie, deren Ziel es war, Gottes Wirken in der Natur zu erkennen. Darwin fiel seinen Professoren als lernbegieriger Student auf. So erhielt er nach dem Abschluss ein Angebot, das seinem Leben die entscheidende Richtung wies: Als Naturforscher sollte er auf dem britischen Vermessungsschiff «Beagle» eine fünfjährige Weltreise unternehmen. Im Dezember 1831 stach er, gerade 22 Jahre alt, in See.
Während fünf Jahren umsegelte die «Beagle» die Erde und steuerte unter anderem die Kapverdischen Inseln, die Falkland-Inseln, verschiedene Küstenorte in Südamerika, die Galapagos-Inseln, Neuseeland, Australien und das Kap der Guten Hoffnung an. Wann immer möglich unternahm Darwin Exkursionen ins Landesinnere.
Ein Erdbeben in Chile
Zu seiner Reiselektüre gehörte das Werk Principles of Geology von Charles Lyell. Darin war beschrieben, dass die Gebirge nicht wie bisher vermutet durch längst vergangene Katastrophen biblischen Ausmasses entstanden sind, sondern in einem langsamen, graduellen Prozess, der noch immer im Gange ist. In Chile erlebte Darwin ein Erdbeben, das die Küste um einige Meter anhob. Danach war er überzeugt, dass Lyell recht hatte: Die Erde veränderte sich fortwährend.
Doch was bedeutete das für die belebte Welt? Darwin begann sich zu fragen, ob sich auch Tiere und Pflanzen über die Zeit verändern. Einiges sprach dafür: In Südamerika fand er Fossilien von ausgestorbenen Riesenfaultieren, die den noch lebenden Faultieren ähnelten.
Auf den Galapagos-Inseln war Darwin fasziniert von den Riesenschildkröten, deren Panzerform von Insel zu Insel leicht variierte.
Zurück in England übergab er die auf der Reise gesammelten Pflanzen, Fossilien und Tierpräparate an Experten, um sie richtig klassifizieren zu lassen. Darunter waren Finken, die Darwin auf den Galapagos-Inseln gesammelt hatte. Der Ornithologe John Gould stellte fest, dass es sich um verschiedene Arten handelte, die jeweils von einer anderen Insel stammten. Das brachte Darwin erneut ins Grübeln: Konnte es sein, dass die Finken einen gemeinsamen Vorfahren vom Festland besassen und sich im Verlauf der Zeit in der Inselwelt der Galapagos in verschiedene Arten aufgespalten hatten?
Die Idee der Evolution geisterte damals bereits herum. Die bekanntesten Theorien stammten vom französischen Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck und vom Mediziner Erasmus Darwin, Charles’ Grossvater. Beide waren der Ansicht, dass sich Tiere und Pflanzen in linearer Weise zu stets höherer Komplexität entwickelten. Doch ihre Vermutungen fanden kaum Anklang. In der Gesellschaft wie auch in Wissenschaftskreisen herrschte der Glaube vor, dass ein göttlicher Schöpfer alle Lebewesen fein säuberlich geschaffen und jeder Art eine fixe, unveränderliche Form gegeben hatte.
Charles las die Werke Lamarcks und seines Grossvaters im Frühling 1837 und begann seine eigenen Einfälle zur Evolution in privaten Notizbüchern festzuhalten. Bald zeichnete er einen weit verzweigten Stammbaum, an dessen Ende verschiedene Spezies standen. Darwin war zur Überzeugung gelangt, dass sich die Arten in verschiedene Richtungen entwickeln, und zwar in kleinen Schritten – wie die Gebirge bei Lyell.
Darwin rang mit sich, doch schliesslich war für ihn klar: Für die Entstehung von Tieren und Pflanzen braucht es keine göttliche Kraft. «O du Materialist!», notierte er. Was seiner Theorie aber noch fehlte, war der Mechanismus, der diesen Wandel vorantrieb.
Ein Jahr später las er den Essay on the Principle of Population des englischen Ökonomen Thomas Malthus. Laut dessen These zeigt die Menschheit eine so starke Wachstumstendenz, dass die Nahrungsversorgung niemals mit ihr Schritt halten kann. Trotzdem gibt es ein ungefähres Gleichgewicht, weil Hungersnöte oder Krankheiten die Bevölkerungszahl in Grenzen halten.
In der freien Wildbahn, so wurde Darwin bewusst, trifft man auf ganz ähnliche Umstände: Tiere setzen mehr Nachkommen in die Welt, als überleben, wodurch sich lediglich die Bestangepassten vermehren und ihre Eigenschaften an eine nächste Generation weitergeben können. Darwin hatte das Prinzip der natürlichen Selektion erkannt.
Darwins geheime Gedanken
Zunächst behielt er seine Ansichten für sich. Ihm war bewusst, welch revolutionäres Potenzial sie bargen. Denn die Annahme, dass sich alles Leben beständig entwickelt und alle Arten gemeinsame Vorfahren haben, stellte auch die Sonderstellung des Menschen infrage: Aus Sicht der Evolutionstheorie war er ein Tier wie jedes andere.
Darwin fürchtete, die viktorianische Gesellschaft in Aufruhr zu versetzen und von ihr lächerlich gemacht zu werden. In den folgenden Jahren sammelte er weitere Belege für seine Theorie und fasste sie 1844 in einer ersten Abhandlung zusammen, die er sicher verwahrte. Ein Buch wollte er später veröffentlichen.
Allmählich weihte er einige Naturforscher ein, darunter Charles Lyell, mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verband. Dieser ermunterte Darwin, mit seiner Theorie an die Öffentlichkeit zu treten, damit ihm niemand zuvorkam. Inzwischen fragten sich nämlich auch andere, ob sich Arten verändern.
Alfred Russel Wallace veröffentlichte 1855 einen Artikel zum Thema, eine ausgefeilte Theorie fehlte ihm aber noch. Darwin erkannte Wallace nicht als Konkurrenten, sondern hielt ihn für einen ahnungslosen Schöpfungsgläubigen. «Wir haben offenbar ähnliche Überlegungen angestellt, ich gehe jedoch viel weiter als Sie», schrieb er ihm.
Wallace erforschte zu dieser Zeit die Inseln des Malaiischen Archipels. Er beschrieb neue Arten und schickte Tausende Tierpräparate nach Europa. Inspiriert von den Schriften Lyells, brütete er selbst an einem Mechanismus des Artenwandels. Als ihn im Frühjahr 1858 eine Malariainfektion ins Bett zwang, erinnerte er sich im Fieberwahn an Malthus’ Essay zum Bevölkerungswachstum, das er Jahre zuvor gelesen hatte.
«Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz», erinnerte er sich später an diesen Moment: «In jeder Generation würde der Unterlegene wegsterben und der Überlegene erhalten bleiben – das bedeutet, der am besten Angepasste würde überleben.» Wallace hatte seine eigenen Worte gefunden, um den Prozess der natürlichen Selektion zu beschreiben.
Ein folgenschwerer Brief
Er brachte seine Gedanken eiligst zu Papier und schickte sie ausgerechnet an Darwin, mit dem er seit einigen Jahren in Briefkontakt stand. Darwin war nach Erhalt des Schreibens wie gelähmt. Um sich die Urheberschaft der Theorie zu sichern, stimmte er dem Plan von Lyell zu, Wallaceʼ Aufsatz gemeinsam mit einer alten Niederschrift seiner eigenen Theorie zu veröffentlichen. Wallace wurde darüber nicht informiert.
Darwin stellte auf schnellstem Weg das seit langem geplante Artenbuch fertig: On the Origin of Species erschien im November 1859. Es war vollgepackt mit all den wissenschaftlichen Beweisen, die Darwin über die Jahre zusammengetragen hatte. Damit erreichte das Konzept der natürlichen Selektion die breite Öffentlichkeit und war unabdingbar mit Darwins Namen verbunden.
Als Wallace 1862 nach England zurückkehrte, ertrug er die Situation mit Demut. Er übte nie Kritik am heiklen Veröffentlichungsverfahren und behielt höchste Achtung vor Darwin. Sein eigenes Werk über die Evolution nannte der bescheidene Wallace schlicht Darwinism.
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