Seit der Gründung im Jahr 1950 wandelt die Rennserie zwischen Schein und Sein – auf Leben und Tod. Die ungebrochene Faszination für die Formel 1 geht aber weit darüber hinaus.
Die These ist ketzerisch, aber der ehemalige Weltmeister Damon Hill schwört auf sie: «Wer braucht Religion, wenn es Formel 1 gibt?» Weit nüchterner hat es der deutsche BMW-Manager Mario Theissen betrachtet: «Am Ende ist alles Physik.»
Irgendwo dort, zwischen der völligen Unerklärlichkeit und der vollständigen Berechenbarkeit, ist sie angesiedelt, die ungeheure und ungebrochene Faszination für die Formel 1. Für jene Rennserie also, der es, nun, da sie 75 Jahre alt wird, so gut geht wie nie. Extreme, Exzesse, Exklusivität, Energie – aus diesen Elementen setzt sich ihre Erfolgsformel zusammen.
Selbstverständlich lässt sich die Formel 1 leicht verdammen im Wissen, dass manchmal vier Rennfahrer in einer Saison ihr Leben liessen. Oder dafür bestaunen, dass kurzarbeitende Ingenieure während der Corona-Pandemie bessere Beatmungsgeräte konstruierten. Solche Widersprüchlichkeiten gehören seit je dazu, sie werden bei aller Gier und allem Adrenalin gepflegt, wobei sich Sentimentalitäten im Grenzbereich der Geschwindigkeit verbieten. Erscheint selbst den unmittelbar Beteiligten etwas zu abgefahren, zucken sie nur mit den Achseln und sagen: «Es ist eben Formel 1.» Die Rennserie wandelte immer schon zwischen Schein und Sein – auf Leben und Tod, wohlgemerkt.
Die Formel 1 ist seit 1950 eine echte Königsklasse
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre die Weltmeisterschaft in ihrem Gründungsjahr vor 75 Jahren dem damaligen Reglement entsprechend bloss «Formel A» getauft worden. In der grossen Eins hingegen manifestierte sich sogleich der ganze Anspruch, sämtlicher Stellenwert. Und zum ersten Rennen in Silverstone am 13. Mai 1950 reiste der britische Regent Georg VI. an. Seither ist die wilde Jagd eine echte Königsklasse. Nach heutigen Massstäben wäre die Formel 1 eher ein Startup: coole Typen, hohes Tempo, ungewöhnliche Ansätze, hoher Finanzbedarf und viele Partys.
Geld mag gemeinhin den Charakter verderben, doch im 3,6-Milliarden-Geschäft schärft es ihn eher. Ein Risikospiel eben, in dem der Zweite immer der erste Verlierer ist. Die Fans lieben diesen Sport für seine eindeutigen Antworten. Fast 800 Fahrer haben sich am Erfolg versucht, doch nur 34 Champions gab es in einem Dreivierteljahrhundert. Prägend waren die Mehrfach-Gewinner wie Juan Manuel Fangio, Alain Prost, Sebastian Vettel oder Max Verstappen. Und vor allem die beiden siebenfachen Weltmeister Michael Schumacher und Lewis Hamilton.
Der Freiheitsdrang der Asphalt-Cowboys führt dazu, dass sich die Formel 1 auch dann mit sich selbst beschäftigt, wenn die Welt um sie herum durchzudrehen scheint. Konventionen waren den Hauptdarstellern lange fremd, ob sie nun James Hunt oder Nelson Piquet hiessen, Gilles Villeneuve oder Kimi Räikkönen. Das machte sie, jeden auf seine Weise, zu einer Art Pop-Stars. Sie bekamen hohe Gagen und wirkten exzentrisch, waren besessen von ihrem Tun, stets vom kalten Hauch der Gefahr umweht. Todessehnsucht allerdings verspürten sie entgegen dem Klischee sicher nicht.
Im fliessenden Übergang von der Selbstinszenierung zur Selbstzentrierung trotzte die Formel 1 immer schon Kriegen und Seuchen. Die Rennserie versteht es, mit Krisen umzugehen, auch mit solchen, in die sie sich selbst hineinmanövriert. Das gelingt ihr auch deshalb, weil sie sich allein schon durch die Technik der rasenden Veränderung verschrieben hat: Hightech-Materialien, Sicherheitstechnik, Hybridtechnologie – vieles, was im Strassenauto später Standard wurde, befand sich zuvor schon auf der Rennstrecke. Und dass die kapitalistischste aller Sportarten auch zum Wirtschaftspionier taugt, zeigt die frühe Erschliessung des Ostblocks und Chinas durch die Formel 1. Mittlerweile ist die PS-Karawane zur Gewinnvermehrung bereits nach Saudiarabien und in die USA weitergezogen. Die Rennserie ist ehrlich im Bestreben, stets ihrer Gier zu folgen.
Vor allem aber ist die Formel 1 als selbsterklärter Zukunftssport nie zufrieden mit sich oder mit dem, was sie hat. Es gilt meist nur das, was kommt. Und Irrlichtern gehört dazu. Die Fahrer gehorchen ihrer hochempfindlichen Wahrnehmung, die Techniker entwickeln Rennwagen mit einer bisweilen erschreckenden Ästhetik, wie etwa einen Tyrrell mit sechs Rädern. Niki Lauda war sich dennoch sicher: «Geschwindigkeit und Schönheit beflügeln einander.» Erst in den Zeitlupen werden einem die ungeheuren Kräfte bewusst, die für das blosse Auge kaum zu erfassen sind. Im dauerhaften Kreisverkehr ist Speed eine ganz legale Droge.
75 years of F1 🤩
In honour of this milestone season, we’ve gone through the 75 best drivers, cars, innovations, teams and key figures from Formula 1’s 75 years so far… 📝#F1https://t.co/vVHNIrh7PO
— Formula 1 (@F1) March 5, 2025
Die Rennserie lebt von der Übertreibung
Die Formel 1 liefert beständig beschleunigte Dramen, die mal als Zirkus, mal als Überwältigungskino oder Daily Soap bezeichnet werden. All diese Bezeichnungen stimmen, denn die Formel 1 lebt von der Übertreibung, sie passt deshalb perfekt nach Monte-Carlo oder Las Vegas. Mit Egos manchmal so gross, dass sie kaum ins Cockpit oder an den Kommandostand passen.
Die prägende Figur Bernie Ecclestone teilte die Formel 1 in drei Epochen: die Zeit vor ihm, die mit ihm und die nach ihm. Der schmächtige Gesamtvermarkter trat stets schlicht auf. Um ihn herum aber entstand ein ungeheures Magnetfeld der Macht, das mittlerweile vom Hollywood-Konzern Liberty Media gesteuert wird und immer weiter an Fahrt aufzunehmen scheint. Das Prinzip aber ist vom Zampano übernommen: aus einem Mythos Moneten machen.
Rennfahrer versuchen die Brachialität ihrer Autos mit seismografischem Gefühl zu beherrschen. Nicht immer ging das gut, 25 Fahrer liessen ihr Leben: Jochen Rindt wurde postum Champion, Graf Berghe von Trips verunglückte kurz vor dem Titelgewinn, das Schweizer Idol Jo Siffert starb 1971 in der Flammenhölle von Brands Hatch. Ayrton Sennas Tod am 1. Mai 1994 kommentierte Bernie Ecclestone zynisch, aber treffend: «Es war, als wäre Jesus live im TV gekreuzigt worden.»
Die Schutzmassnahmen wurden Jahr für Jahr verstärkt, aber die vollständige Sicherheit kann es nicht geben. Alle wissen das, und manche drängt es gerade deshalb auf die Tribünen und vor die Bildschirme.
Links: Der Engländer Richard Attwood im Lotus-Auto während des Grand Prix von Monte-Carlo 1969. – Rechts: Das Schweizer Idol Jo Siffert (rechts) mit seiner Frau Nina und dem Briten Jackie Stewart. Siffert starb 1971 in der Flammenhölle von Brands Hatch.
Dieser komplexe Cocktail mit seinem intensiven Gemisch aus Technik und Risiko, aus Kalkül und Übermut, Geld und Geltung scheint nicht schal zu werden. Er ist ein globales gesellschaftliches Ereignis im Zweiwochen-Rhythmus – so sehr er für seine Gegner auch aus der Zeit gefallen scheint. Doch Nachwuchssorgen kennt die Formel 1 nicht, sie lockt über die Jahrzehnte hinweg ihre im Übrigen immer weiblicher werdenden Zielgruppen mit Reizüberflutung und hohem Tempo.
Dadurch, dass sie alle Gefühle auf die Spitze treibt, eroberte die Emotionsmaschine Formel 1 unsere Wahrnehmung. Sie erscheint wie ein Plot von Hemingway über das Verhalten von Menschen in zugespitzten Situationen. Der Literaturnobelpreisträger liess nur drei Disziplinen gelten: Stierkampf, Bergsteigen – und Motorsport.