Baugeschichtliches Archiv
Traditionsgeschäfte und Einkaufstempel an der Bahnhofstrasse schliessen, doch ein unauffälliges Mittelstandswarenhaus bleibt: der St. Annahof.
Die Zürcher Bahnhofstrasse an einem frühlingshaften Nachmittag: die Bäume im Blütenrausch, die Menschen im Kaufrausch. Es geht gewohnt geschäftig zu und her an der 1400 Meter langen Einkaufsmeile, deren konstante Verwandlung sich wie eine Kulturgeschichte des Schweizer Konsums liest.
Doch wer sich regelmässig vom See in Richtung Bahnhof oder in umgekehrter Richtung bewegt, verspürt auch Ruhe in Zürichs Hauptschlagader. Für einen Moment gibt es keine neuen Hiobsbotschaften, die verkünden, welches alteingesessene Geschäft als nächstes von der Bildfläche verschwinden wird.
Es reicht für die Zürcher Seele bereits, dass das Warenhaus Jelmoli Ende Februar für immer seine Tore geschlossen hat. Wie sich einst das Eisengerippe mit den grossen Glasscheiben als architektonisches Novum an der Bahnhofstrasse ins Fundament bohrte, so entschieden sollte es auch der Zürcher Bevölkerung im Gedächtnis bleiben.
Diese musste bereits vor fünf Jahren einen anderen Warenhaus-Abschied verkraften: Mit Manor kam der Bahnhofstrasse für einige Jahre ein Warenhaus abhanden, das jedoch 2027 – ironischerweise im Jelmoli-Gebäude – wie ein Phönix wieder aus der Asche steigen soll.
In der Zwischenzeit schrumpft die Zahl der Warenhäuser an der teuersten Strasse der Schweiz auf zwei: Globus und St. Annahof. Während auch Globus Turbulenzen hinter sich hat und sich nun im sicheren Hafen thailändischer Besitzer wiederfindet, fristet der St. Annahof eher ein Dasein im Hintergrund, obwohl an prominentester Stelle mittig an der Bahnhofstrasse gelegen.
Unaufgeregt, aber doch mondän
Während sich die Konkurrenten Globus und Jelmoli einen Kampf im Luxussegment lieferten, blieb der St. Annahof in den vergangenen Jahrzehnten das unaufgeregte Mittelstandswarenhaus. Dennoch orientierte es sich bei der Gründung 1913 an mondänen Vorbildern.
«Warenhäuser sind Kathedralen des Wohlstands», schrieb Émile Zola 1883 in seinem ersten Kaufhausroman «Au Bonheur des Dames» («Das Paradies der Damen»). Als Zolas Vorbild diente mit Aristide Boucicauts «Au Bon Marché» das erste Kaufhaus von Paris. Was das Warenhaus des 19. Jahrhunderts auszeichnete, hat von seiner Gültigkeit bis heute nichts eingebüsst. Das breite Sortiment ist noch immer Bestandteil dieser manchmal fast sakral anmutenden Kommerztempel, ebenso sind es die festen Preise der Waren.
Während in Kathedralen «göttliches» Licht durch die Gänge geleitet wird, so verdrängen im Warenhaus helle Scheinwerfer das Tageslicht – alles gemäss dem branchenüblichen Konzept. Gilt es doch seit je, in sich abgeschlossene Kaufwelten im Warenhaus zu inszenieren, um den Kaufanreiz zu unterstützen. Das ist auch beim St. Annahof so, dem heutigen Flaggschiff der Coop-City-Warenhäuser.
Heilig ist dort allerdings hauptsächlich der Name. Wer durch den hinteren Teil des Gebäudes schlendert, vielleicht gerade durch die Schuhabteilung, für die das Warenhaus seit seiner Gründung bekannt ist, der würde staunen, stünde dort noch immer die einstige St.-Anna-Kapelle.
Kapellen gab es an diesem Standort ursprünglich sogar zwei. Auf einem kleinen Moränenhügel unmittelbar ausserhalb der alten Stadtmauern und gegenüber dem Augustinertor standen St. Stephan und St. Anna. 1385 wurde St. Anna erstmals erwähnt.
Die Kapelle war ein einfacher rechteckiger Bau. 1142 war in Jerusalem eine Kirche zu Ehren von Anna, der Mutter Marias, gebaut worden, und damit hatte der eigentliche Kult um diese Heilige begonnen. Der schliesslich auch die Stadttore Zürichs erreichte.
Kapelle wird zum Pest-Friedhof
Es dauerte jedoch noch mehr als 300 Jahre, da reformierte sich Zürich, und sein Rat verkaufte 1529 die St.-Anna-Kapelle und die zugehörigen Güter – allerdings nur, um sie 1566 wieder zurückzukaufen und sie als Friedhof für die vielen Toten der grossen Pestseuche zu nutzen. Die Kapelle wurde erst 1909 abgebrochen und durch eine neue St.-Anna-Kapelle ersetzt, die bis heute im Baukomplex des Glockenhofs gegenüber dem heutigen Warenhaus St. Annahof integriert ist.
In jene Zeit fielen Zürichs «Embellissements»: Die urbane Umgestaltung der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert – immer mit Blick auf Paris – führte nicht nur dazu, dass sie ihr heutiges Gesicht erhielt, sondern auch dazu, dass sich Zürich zu einer weltoffenen, verkehrstechnisch gut erschlossenen Wirtschaftsmetropole entwickelte.
Dazu trugen auch die um die Jahrhundertwende aus dem Boden wachsenden Warenhäuser bei. Denn Zürich glich um 1850 noch einer mittelalterlichen Stadt, die Gräben, Kanäle und Tore umfasste, durch die sich Fussgänger und Wagen drängen mussten.
Für den Stadtingenieur Arnold Bürkli war damals denn auch klar: «Wenn man bedenkt, dass Zürich keine einzige breite Strasse von einiger Länge besitzt, welche sich zu einer Promenade eignet, so darf hier die Gelegenheit nicht versäumt werden, eine dem disponiblen Raum entsprechende, möglichst breite und grossartige Strasse zu erstellen.»
Er wurde gehört. So war unter anderem die Konzeption eines Boulevards, wie man ihn vom Haussmannschen Paris her kannte (und vermutlich auch bewunderte), die Initialzündung einer ganzen Reihe von Verschönerungsmassnahmen, die Zürich im Laufe des 19. Jahrhunderts realisierte.
Bald entstanden auf der inneren Seite des neuen Boulevards, wo zuvor die Stadtmauer stand, zwischen Rennweg und Bahnhof, neue Wohn- und Bürohäuser.
Als Einkaufsstrasse setzte sich die Bahnhofstrasse erst allmählich durch: Die Kunden trauten den neuen Geschäften mit den grossen Schaufenstern lange nicht. Doch dann gingen Bürklis Pläne auf: Aus der Bahnhofstrasse wurde ein vornehmer Boulevard. Und der Markt musste sich anpassen.
Mit den Kauf- oder eben Warenhäusern, je nachdem mit oder ohne Lebensmittel, entstand eine neue Art des Verkaufs: kostensenkende Grosseinkäufe, beschleunigter Warenumschlag, verkleinerte Margen, systematische Werbeanstrengungen, ein Sortiment zum Sehen und vorerst noch keine Selbstbedienung. Auch das Kauferlebnis im St. Annahof war am neuen Modell ausgerichtet, und das Gebäude wurde entsprechend geplant.
In Auftrag gegeben hatte es der Lebensmittelverein Zürich (LVZ), der heutige Coop. Die Genossenschaft hatte das rund 3000 Quadratmeter grosse Grundstück zwischen Bahnhof- und Füsslistrasse im Jahr 1911 gekauft. Das Architekturbüro Gebrüder Pfister gestaltete in den nächsten Jahren den St. Annahof nicht als vollständiges Waren-, sondern als Geschäftshaus mit unterschiedlichen Nutzungen.
Es war ein geschickter Schachzug, die Pfisters für diesen grossen Gebäudekomplex ins Boot zu holen. Ihr Büro gehörte damals zu den gefragtesten Zürichs, so hatten sie bereits zuvor unter anderem das Grieder-Haus gebaut. Nun schufen sie im «Heimatstil-Barock» zwei voneinander weitgehend unabhängige Gebäude hinter einer einheitlichen Fassade, die durch eine zentrierte Tordurchfahrt akzentuiert wurde.
Damit eröffnete 1913 der LVZ mit dem St. Annahof ein riesiges Kaufhaus an bester Lage an der Zürcher Bahnhofstrasse und reagierte als erste der Genossenschaften auf die Gründung von Warenhäusern in der Schweiz. Die genossenschaftlich organisierte Grossproduktion sorgte für attraktive Preise. Der LVZ, der damals einen Jahresumsatz von 8 Millionen Franken erwirtschaftete, investierte in das Projekt 3 Millionen Franken.
Im Erdgeschoss richtete der Verein eine Lebensmittelhalle ein. Im ersten Stock lag der Verkaufsraum für Haushaltsartikel und die stadtbekannte Schuhabteilung, im zweiten Stock hatte die Verwaltung des LVZ ihre Büros, der dritte und der vierte Stock waren vermietet.
Der fünfte Stock beherbergte schliesslich den als Prunksaal ausgestalteten Sitzungssaal des Verwaltungsrats. Die andere Hälfte des Hauses schrieb der LVZ zur Vermietung aus: «Überall ist für reichliche Beleuchtung, genügend Aborte, Pissoirs und Warmwasser gesorgt.»
So angenehm hoch die Räume im Erdgeschoss sind, so seltsam niedrig sind sie bis heute in den Obergeschossen. Herzstück war die Treppe zum ersten Stock, in deren Mitte ein Steinzeugleuchter aus der Staatlichen Majolika-Manufaktur in Karlsruhe hing. Weder Treppe noch Leuchter sind heute beim Besuch des Warenhauses anzutreffen. Die Treppe fiel den umfassenden Umbauarbeiten von 1978 zum Opfer.
Herzstück des einstigen St. Annahofs war die kunstvoll verzierte Treppe zur ersten Etage. Sie fiel Umbauarbeiten in den 1970er Jahren zum Opfer.
Eine Schuhverkäuferin wird erschossen
Einige wenige Fliesen erinnern noch an damals. Der Restaurantgast findet sie im 4. Stock als unauffällige Wanddekoration wieder. Sie könnten von früher berichten, als 6000 Kauflustige 1950 am ersten Verkaufswochenende das neue Konzept des St. Annahofs bestaunten. Er war damals der grösste schweizerische Lebensmittelladen – nicht alle Kaufhäuser besassen die räumlichen Entwicklungsmöglichkeiten eines St. Annahofs, der sukzessive das Sortiment und auch die Verkaufsfläche anpassen konnte.
Oder sie könnten von einer grauslichen Geschichte berichten: von der Tötung einer Schuhverkäuferin am helllichten Tag. Ein verschmähter Liebhaber feuerte im Februar 1933 eine Kugel auf seine Angebetete, bevor er sich selbst tötete, was landesweit für Schlagzeilen sorgte.
Heute sind es lediglich die schwarzen Verkaufszahlen des Coop-City-Warenhauses, die von sich reden machen. Das solide Mittelstandswarenhaus der Gegenwart mit dem prestigeträchtigen Bau von damals, heute unter Denkmalschutz, ist eine fixe Grösse an der Zürcher Bahnhofstrasse.
Nicole Dreyfus ist Historikerin und Schweiz-Korrespondentin der Wochenzeitung «Jüdische Allgemeine». Sie lebt in Zürich. Die Geschichte des St. Annahofs hat sie für eine Vortragsreihe zur Bahnhofstrasse aufgearbeitet.