Sie sollten bis zur Vernehmlassung unter Verschluss bleiben, doch nun können sämtliche Mitglieder der Bundesversammlung die neuen EU-Verträge im «Reading Room» einsehen.
Die Vertragsentwürfe zu den neuen Abkommen mit der Europäischen Union werden zugänglicher. Allerdings nur für das Parlament.
Am Mittwoch hat der Bundesrat entschieden, sämtlichen Mitgliedern des Parlaments Zugang zum sogenannten «Reading Room» zu gewähren. Über den Entscheid wurde bereits seit Tagen spekuliert.
So berichtete der «Blick» bereits vergangene Woche, dass Aussenminister Ignazio Cassis diesen Vorschlag in die wöchentliche Bundesratssitzung einbringen würde. Mit seinem Entscheid vom Mittwoch reagiert der Bundesrat auf den Druck aus dem Parlament.
«Ungleichbehandlung» der Parlamentarier
Ende 2024 gab der Bundesrat bekannt, dass die Verhandlungen mit der EU abgeschlossen seien. Er veröffentlichte Faktenblätter mit den wichtigsten Punkten der einzelnen Abkommen. Wie bei Verträgen dieser Bedeutung üblich, fand dann ein sogenanntes «legal scrubbing», eine rechtliche Überprüfung der Vertragsdetails, die inzwischen abgeschlossen ist.
Die Veröffentlichung der Entwürfe ist weiterhin im Rahmen der ordentlichen Vernehmlassung vorgesehen, die im Juni beginnt und bis im Herbst dauern soll.
Mitte April gewährte das EDA allerdings einigen Mitgliedern des sogenannten «Sounding Boards», das aus Vertretern von Verbänden und Gewerkschaften besteht, Zugang. Weil diesem Gremium auch einzelne Parlamentarier angehören, konnten auch sie die Entwürfe sichten. Der «Reading Room» wurde dadurch zum kontroversen Begriff und die Entwürfe wurden in der Diktion ihrer Gegner zu «Geheimverträgen».
In einer Mitteilung schreibt das EDA am Mittwoch, dass sein Vorgehen «teilweise als Ungleichbehandlung wahrgenommen» wurde. Es ist eine etwas umständliche Beschreibung für den Druck, der sich in den vergangenen Wochen entwickelt hat.
Wie die Tamedia-Zeitungen berichteten, verfasste die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates einen Brief an Aussenminister Cassis. Darin forderte sie, dass entweder alle Parlamentarier oder niemand Zugang erhalte. Mitglieder der Geschäftsprüfungskommission kündigten zudem an, das Vorgehen des EDA an einer Sitzung zu diskutieren.
Das EDA reagierte und gewährte darauf je zwei Parlamentariern aller Fraktionen Zugang zu den Verträgen. Doch dieses Prozedere stiftete weitere Unruhe.
«Ausserordentliches Interesse»
Vergangene Woche luden die SVP-Nationalräte Magdalena Martullo und Thomas Aeschi zu einem Point de Presse und schilderten die Eindrücke ihres anderthalbstündige Vertragslektüre. So sagte Martullo etwas, die 750 Seiten hätten sie erschlagen. Sie forderte, dass der Bundesrat die Verträge per sofort veröffentlicht. Wie die Tamedia-Zeitungen berichteten, hatte die SVP die emotionale Pressemitteilung schon verfasst, bevor Aeschi und Martullo die Verträge gesehen hatten.
Auf das Drängen, die öffentliche Vernehmlassung vorzuziehen und die Entwürfe frühzeitig zu veröffentlichen, lässt sich das EDA weiterhin nicht ein. Stattdessen schreibt es in einer Mitteilung, dass angesichts des «grossen parlamentarischen Interesses» ab sofort sämtliche National- und Ständeräte Zugang erhalten.
Die Einsicht in die Entwürfe erfolgt auf Anfrage. Die Parlamentarier unterstehen – wie ihre bisher zugelassenen Kollegen – der Geheimhaltungspflicht.
Das heisst: Fotografieren ist den Parlamentariern verboten. Über konkrete Inhalte der Verträge zu sprechen ebenso. Wahrscheinlich ist jedoch, dass nun weitere Politiker Politiker von ihren Leseeindrücken berichten.