Von einer Frau, die lieber wieder in der Pflege arbeitet, als nur mit dem Rennvelofahren Geld zu verdienen.
Als Deby Brunolds Traum in Erfüllung geht, fühlt sie sich verloren. Brunold ist 30 Jahre alt, lebt in einem kleinen Dorf im Aargau und hat den angesagtesten Beruf der Gegenwart: Sie ist Influencerin.
Das heisst, Brunold lebt davon, sich in Kleidern, an Destinationen und mit Fahrrädern zu inszenieren, Bilder zu machen und diese auf der Plattform Instagram zu veröffentlichen. Dort folgen ihr über 200 000 Menschen, ihre Videos sehen manchmal Millionen. Marken bezahlen Brunold, um ihre Fans zu erreichen.
Ein Traumjob?
Mit ihrem Hobby Geld zu verdienen, ihre eigene Chefin zu sein, vermeintlich alle Freiheiten der Welt zu haben, all das war weniger glamourös, als Brunold es sich vorgestellt hatte. Sie entschied sich, wieder Schicht zu arbeiten und Menschen zu pflegen, die keine Bewunderer sind und lieber nicht auf ihre Hilfe angewiesen wären.
Aber was gibt es eigentlich am Leben als Internet-Idol auszusetzen?
Niemand ahnte, dass ausgerechnet Deby Brunold eines Tages ihr Geld mit Sport verdienen würde. Als Teenager raucht sie und bewegt sich selten. Bis sie Anfang 20 einen Mann kennenlernt, der rasierte Beine hat und mit dem Rennvelo um Seen und über Berge fährt. «Er erzählte von seinen Abenteuern und ich dachte, das möchte ich auch», sagt Brunold.
Ihren ersten grossen Erfolg erlebt sie mit einem Occasion-Rennvelo: eine 80 Kilometer lange Geburtstagsrundfahrt um den Zugersee. «Das war krass.» Richtig viel fährt Brunold aber erst, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hat. «Ich war in einer dieser traurigen Selbstfindungsphasen, alles war mir zu viel, die Ausbildung, der Umzug – also fuhr ich immer Velo.»
Mit dem Auto auf den Pass
Brunolds ersten Karriereschritt in Richtung Influencerin ermöglicht eine Zufallsbekanntschaft. Brunold lernt eine Fotografin kennen, die einen Velokalender herausgibt. Diese fragt Brunold, ob sie eines der Models sein möchte.
Schliesslich posiert Brunold im Frühjahr 2020 auf dem Galibier-Pass in den französischen Alpen – wo sie mit dem Auto hochgebracht wurde. «Dass man da selbst rauffahren könnte, habe ich mir gar nicht überlegt», sagt sie. Nach dem Shooting kann Brunold eines der teuren Fahrräder günstiger kaufen. «Ein grünes Merida, da wusste ich, jetzt muss ich richtig viel fahren, dass ich diesem Velo gerecht werde.»
Ihr erster Pass wird der Klausen, «der schönste der Schweiz». Ende 2020, dem Jahr der Pandemie, hat Brunold schon viele Kilometer auf dem Velo absolviert: 14 000 zeigt die Bilanz auf der Sport-App Strava. «Ich war total angefressen.» Und sie habe gelernt: «Ich kann Pässe fahren.»
Also fährt Brunold in der neuen Saison, 2021, auf den Pass, auf dem alles angefangen hat: den Galibier in Frankreich. Sie nutzt ihre Ferien, um die Strassen hochzuklettern, auf denen sich die Profis an der Tour de France quälen. «Ich war naiv, ich schaute einfach, was die so machen, stellte mir eine Tour zusammen und fuhr mit dem Auto dorthin.» Brunold kommt überall hoch. «Ich habe es einfach gemacht, langsam, immer weiter.»
Während Brunolds Tour de France veröffentlicht sie regelmässig Bilder auf Instagram. Als Frau sei sie aufgefallen. «Wenn du oben ankommst, macht gleich jemand ein Foto von dir.» Brunold beobachtet die anderen Velofahrer und merkt, dass manche von ihnen besonders stylisch unterwegs sind und Sponsoren haben.
Bald ist auch Deby Brunold eine gut Bekleidete. Die deutsche Fahrradmarke Biehler fragte sie, ob sie ihre Botschafterin werden wolle. «Sie schickten mir eine Kiste Kleider, und ich zog die an.» Das sei «unglaublich cool» gewesen. «Ich dachte, jetzt habe ich’s geschafft.» Biehler habe sie ausgesucht, weil sie vom Typ her passte, «ich bin tätowiert und aus der Schweiz, das war für sie attraktiv».
Der Durchbruch als Influencerin
In ihrer neuen Rolle als Werbebotschafterin wird Brunold in die Pyrenäen eingeladen. Dort macht der Fotograf von Biehler professionelle Bilder von ihr. «Danach merkte ich, es zieht an auf Instagram.» Brunolds Followerzahl steigt auf 30 000.
Als sie schliesslich im Juni 2022 mit dem Velo über die Pyrenäen fährt, schickt sie dem Biehler-Fotografen immer wieder Bilder, er bearbeitet sie, und Brunold lädt die Fotos am Abend hoch. «Eines dieser Bilder ging viral, ich mit offenem Trikot am Tourmalet.» 93 000 Likes, über 400 Kommentare, «den Überblick über die Nachrichten habe ich verloren». Am Ende der Reise, nach elf Tagen, hat Brunold über 100 000 Follower – es ist der Start ihrer Karriere als Profi-Influencerin.
Planen könne man so etwas nicht, sagt Brunold. «Ich fahre gerne Velo, und irgendwie bot ich einen guten Mix: eine Frau, eine Riesentour.» Nach dieser Reise kontaktieren sie Vertreter von Marken, um zu fragen, «was ein Post von ihr koste». Sie sei «massiv überfordert» gewesen. «Ich hatte doch keine Ahnung, was ich sagen soll.»
Sie habe sich mit niemandem über Löhne oder Arbeitsbedingungen austauschen können. «Ich habe gegoogelt, aber nichts gefunden.» Brunold eignet sich Sprachkenntnisse an. «Plötzlich hatte ich Meetings auf Englisch, ich habe doch nie mit jemandem Englisch gesprochen.» All das tut sie, während sie noch für die Spitex Schicht arbeitet.
Ein Schlüsselmoment auf Brunolds zweitem Bildungsweg: als die Marken zu ihren Beträgen Ja sagen. Wie viel sie für Aufträge verlangt, verrät Brunold nicht. «Warum ich dazu schweige? Weil es alle tun, aber wahrscheinlich wäre es besser, ich würde es sagen.»
Ende 2022 denkt sie erstmals darüber nach, ihren Beruf als Pflegerin aufzugeben. Sie setzt sich ein Sparziel und sagt sich: «Wenn ich das erreicht habe, wage ich es.» Ein paar Monate später kündigt sie. Und mit dem grossen Abenteuer beginnen ihre grossen Sorgen.
Als Pflegerin hat sie nach ihrer 8-Stunden-Schicht Feierabend, als Influencerin nie. Vom Velofahren zu leben, ist komplizierter, als sie es sich vorgestellt hat. Plötzlich sind die Tage unstrukturiert, sie weiss nicht, wie viel Geld am Ende des Monats da sein wird, wie man Buchhaltung macht und die Steuererklärung ausfüllt, und hat deswegen schlaflose Nächte. «Es war der Horror», sagt Brunold über die Zeit im Frühjahr 2023.
Andere Leute, denen sie vom Influencen erzählt, hätten sich ihren Alltag aufregend vorgestellt: immer Velofahren, immer Reisen. Aber Brunold fühlt sich erschöpft und findet für ihre Leidenschaft, das Velofahren, kaum mehr Zeit. «Anstatt den Feierabend draussen zu geniessen, sitzt du als Influencerin stundenlang am Computer.» Sie fühlt sich unglücklich und unruhig.
Wenn Brunold mit ihren Kollegen in den Ausgang geht und jemand sie nach ihrem Beruf fragt, sagt sie noch immer: «Krankenschwester». Was es bedeute, Influencerin zu sein, könnten sich die meisten Leute ohnehin nicht richtig vorstellen. Ihren Eltern sagt sie, sie mache jetzt Werbung.
Brunold reist um die Welt, nach Österreich, Holland, Italien, Spanien, Marokko, New York, Taiwan, nimmt an Rennen teil, streckt Velos, Trikots und Gummibärchen in die Kamera. «Es war interessant, aber ich habe mein soziales Umfeld vernachlässigt, meine Routinen, litt unter Jetlag.»
Nach eineinhalb Jahren hat sie genug von ihrem neuen Leben.
Die Nachteile der vielen Follower
Brunold lässt sich wieder als Pflegerin bei der Spitex anstellen. «Ich mag es, zu den Leuten nach Hause zu gehen, hinter jeder Türe verbirgt sich eine Geschichte.» Die Begegnungen mit den alten und manchmal auch jüngeren Menschen empfindet sie als das Gegenteil eines Instagram-Posts: echt, nah, ungefiltert. «Da bekomme ich ein direktes, ehrliches Feedback.»
Im Alltag sind die vielen Follower für Brunold nicht immer nur ein Vorteil. Zum Beispiel, wenn Leute sie in einem Hotel oder Restaurant aufsuchen, weil sie in ihren Posts gesehen haben, dass sie sich in der Gegend aufhält. «Das finde ich übergriffig.» Manchmal veröffentlicht sie deshalb erst später, wo sie war, um sich zu schützen.
Mit so vielen Followern sei es auch schwierig geworden, echte Beziehungen zu knüpfen. «Gerade bin ich wieder Single und würde gerne einen Mann kennenlernen – aber mein Profil schreckt ab.» Sie merke, wie sich Männer manchmal gar nicht trauen, sie anzusprechen und dann später schreiben: «Ich war nicht sicher, ob du es bist.» Das finde sie schade.
Im Frühling, als es wärmer wurde, hat Brunold ihr Pensum bei der Spitex reduziert und arbeitet nun wieder hauptsächlich als Influencerin. Dieses Mal will sie aber eine bessere Balance behalten. «Das Internet ist nicht so meine Welt, da gibt es Leute, die eine halbe Wissenschaft daraus machen, wann sie ein Reel posten.»
Ihr oberstes Ziel: die Freude am Velofahren behalten. Zum Beispiel bei einer Tour auf den Klausenpass.