Die Buchmacher sehen Schweden beim ESC-Final am Samstag als Favoriten. Das hat auch mit einer Abstimmung unter Fanklubs zu tun.
Die Zeit der grossen Casting-Shows ist allmählich vorbei. In den nuller und zehner Jahren versammelten sich die Familien oder Freunde im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schauten sich «Music Star», «Die grössten Schweizer Talente» oder «Deutschland sucht den Superstar» an. Und werweissten, wer eine Runde weiterkommen oder gewinnen würde.
Im Eurovision Song Contest (ESC) lebt das samstagabendliche Lagerfeuer im Wohnzimmer weiter. Bis zu 180 Millionen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer werden für den Final am Samstagabend erwartet. Und wieder wird gewerweisst: Wer jubelt am Ende?
Der Wettexperte
Für die Buchmacher beim ESC ist bereits klar, wie der Final ausgehen wird: Schweden gewinnt mit seinem Sauna-Song des Trios KAJ mit grossem Abstand. Der österreichische Act JJ folgt auf Rang zwei, Frankreichs Louane wird Dritte.
Bei den Wettquoten gilt: je geringer die Wahrscheinlichkeit des Sieges, desto höher der Gewinn. Wer 1 Franken auf den Sieg von KAJ setzt, erhielte bei zahlreichen Wettanbietern – Stand Freitagnachmittag – knapp 2 Franken zurück. Für einen Sieg von Österreich sind es schon fast 4 Franken. Und sollte Frankreich gewinnen, bekäme man über 8 Franken zurück.
Vor jedem Eurovision Song Contest verweisen die Berichterstatter auf die Wettquoten. Sie sind einer der wenigen Indikatoren für das Leistungsvermögen der Künstlerinnen und Künstler. Und überraschend präzise. Im vergangenen Jahr lagen die Wettbüros zwar falsch. Sie setzten den späteren Sieger, den Schweizer Nemo, hinter Kroatiens Baby Lasagna auf Rang zwei. Aber in den vier vorherigen Austragungen setzte sich jeweils der Favorit der Wettanbieter durch.
Doch wie kommen diese Wettquoten überhaupt zustande?
Wetten kennt man vor allem aus dem Sport, wo auf alles Mögliche gesetzt werden kann. Welche Mannschaft gewinnt, welcher Spieler schiesst das nächste Tor, wer tritt den nächsten Eckball? Die Buchmacher berechnen die Quoten mithilfe von verschiedenen Daten: dem Tabellenstand eines Teams, der Formkurve, der Torquote des Angreifers. Die Datenmenge ist riesig.
Auf den ersten Blick fehlen solche Daten in der Musikbranche. Anders als beim Sport gibt es keine Gewinner oder Verlierer und folglich keine Resultate, auf die zurückgegriffen werden könnte.
Zwar unterscheidet sich die Herleitung der Wettquoten von Anbieter zu Anbieter. Daten zum ESC gebe es aber, sagt Thomas Haider. Er ist Wettberater bei der deutschen Plattform wettfreunde.net, die den Wettmarkt studiert und Prognosen oder Tipps gibt. Haider sagt: «Die Buchmacher schauen sich beispielsweise die Klicks auf Youtube oder die Likes auf Spotify an.» Berücksichtigt würden auch die historischen Abstimmungsmuster. Schweden hat den ESC siebenmal gewonnen und ist damit zusammen mit Irland Rekordsieger.
Zentral sei auch die Umfrage der Organisation Générale des Amateurs de l’Eurovision (OGAE). Das ist eine Vereinigung aus gut vierzig ESC-Fanklubs in Europa. Einige Wochen vor dem Final bewerten die Fanklubs die Songs. In den vergangenen siebzehn Austragungen votierte die OGAE sechsmal für den späteren Sieger und zweimal für den späteren Zweitplatzierten. OGAE-Umfragen sind gute Indikatoren für das tatsächliche Abschneiden beim ESC. Beim diesjährigen OGAE-Voting setzte sich Schweden durch.
Die Vergangenheit
Aus den Gewinnern der letzten Jahrzehnte lässt sich ein typisches Siegerprofil herausdestillieren: Künstlerin mit englischem Song.
Für gewöhnlich siegen nämlich Solokünstler. 1956 fand der Eurovision Song Contest erstmals statt, 68-mal ist er bis jetzt ausgetragen worden. Dabei setzte sich 49-mal ein Solokünstler durch, 13-mal gewann eine Gruppe, 6-mal ein Duo.
Besonders erfolgreich waren Frauen: 37-mal gewann eine weibliche Person oder Gruppe den ESC, die Männer kommen auf nur 17 Siege. 13-mal gewannen gemischte Gruppen, und mit Nemo im vergangenen Jahr erstmals auch eine nonbinäre Person.
Auch hinsichtlich der Sprache gibt es klare Hinweise: 38 der 68 Sieger-Songs waren Englisch. Nur 4-mal in den letzten 30 Jahren war ein Song erfolgreich, der nicht auf Englisch gesungen wurde. Früher waren englische Lieder wenig erfolgversprechend: Erst beim zwölften ESC holte sich erstmals die Sängerin eines englischen Songs den Sieg. Bis dahin waren vor allem französische Chansons beliebt.
Der Musikproduzent
Und wie sieht es musikalisch aus, hat «Bara Bada Bastu» von KAJ das Zeug zum grossen Wurf?
Tom Oehler muss es wissen. Der Zürcher war an sieben ESC-Songs beteiligt, er hat dieses Jahr auch den maltesischen mitproduziert und den tschechischen gemischt. Bei Nemos siegreichem «The Code» war Oehler Co-Produzent, bei Zoë Mës «Voyage» Produzent und Co-Writer. Er sagt, der schwedische Song habe mehrere Zutaten, die ein guter ESC-Song brauche. «Er ist sehr catchy, lustig und spielt mit Länderklischees.»
Laut Oehler ist das Wichtigste, dass ein Song ein starkes Gefühl auslöse, «Euphorie, Trauer, Melancholie oder Zusammengehörigkeit». Essenziell sei auch ein intensiver Spannungsbogen, der visuell gut umsetzbar ist. «Nemos Darbietung war durch die vielen Wechsel innerhalb des Songs sehr spannend.»
Der diesjährige Schweizer Song von Zoë Më ist eine Ballade, intim und emotional, das Bühnenbild schlicht. «In einem ESC, der aus Feuerwerk besteht, können wir hoffentlich damit herausstechen», sagt Oehler. Und das ist der Punkt: das Auffallen.
Um sich überhaupt in der landesinternen Ausscheidung durchsetzen zu können, muss ein Song aus mehreren hundert anderen Songs herausstechen. Dasselbe dann beim ESC, wo die Zuschauerinnen und Zuschauer für einen anrufen müssen, will man gewinnen. «Es ist nicht gut, wenn das ganze Publikum mit dem Song einverstanden ist. Besser ist, wenn es die einen schrecklich finden und die anderen toll. Dann rufen mehr Leute an.»
Wer all dieses Wissen nun in Geld umwandeln möchte, muss – zumindest virtuell – die Schweiz verlassen. Hierzulande sieht das Geldspielgesetz nur Wetten «auf den Ausgang eines Sportereignisses» vor. Schweizer Anbieter dürfen keine ESC-Wetten anbieten. Dasselbe gilt für deutsche Wettanbieter. In Österreich dagegen sind alle Wetten erlaubt.
Um beim Final mitreden zu können, sind die Wettquoten aber allemal hilfreich.