Der menschliche Körper, das organisch gewachsene, inspiriert den in Spanien geborene Wahlschweizer zu seinen Bauten. Dabei gibt es eine Art von Konstruktion, die dem Architekten ganz besonders entspricht.
Santiago Calatrava ist Architekt und Bauingenieur. Wie Le Corbusier ist er aber auch Künstler. Und wie der grosse Schweizer Architekt hat er darin seine Freiheit zum Experiment gefunden. Übrigens kann man auch von Calatrava behaupten, was schon auf Le Corbusier zutraf: dass der gebürtige Spanier und Wahlschweizer ein ausgesprochen künstlerisches Verständnis von Architektur pflegt. Auch Calatravas Gebäude haben etwas von begehbaren Raumskulpturen.
Doch Calatravas architektonisches Werk hat nichts mit Le Corbusiers brutalistisch-funktionalem Modernismus zu tun. Im Gegenteil: Die Baukunst von Santiago Calatrava zeugt von geradezu exzentrischer Leichtigkeit. Und von markanter Eigenwilligkeit: Jedes seiner Werke ist gleichsam ein Signature-Piece – unverkennbar in seinem charakteristischen Ausdruck.
Wobei man bei seinen grossen Bauten – seien es Bahnhöfe, kulturelle Institutionen und Museen – unweigerlich an riesige Gerippe von Urwesen, auch an urzeitliche Quallen oder Muscheln und Schnecken denken mag. Selbst mit den Strukturen von Blattwerk oder riesigen Vogelflügeln könnte man seine Architektur vergleichen. Das organisch Gewachsene jedenfalls ist eine kaum zu übersehende Eigenschaft von Calatravas Bauen.
Ein Brückenbauer
Kein Wunder, hat der 1951 in Valencia geborene Architekt und Künstler immer wieder Brücken gebaut. Diese Bauwerke ohne Innenraum entsprechen seiner Neigung zur bildhauerischen Auffassung von Gebautem. Seine Brücken – man denke an die Zubizuri-Fussgängerbrücke in Bilbao, an die Kronprinzenbrücke über die Spree in Berlin oder an die 120 Meter lange und 48 Meter hohe Schrägseil-Konstruktion der Samuel-Beckett-Brücke in Dublin – sind schwebende Gebilde im reinen Lichtraum. Sie verbergen ihre Konstruktionsweise nicht, sondern legen sie offen zutage. Von diesen rhythmisch-leichten Konstruktionen in lichtem Weiss aber lässt sich leicht auch eine Brücke schlagen zu Calatravas Kunst.
Wobei sich diese, im Gegensatz zu seiner Baukunst, alles andere als unverkennbar ausnimmt. Wiedererkennung ist kein Merkmal dieser Kunstwerke. Calatrava wildert denn auch in sämtlichen Gefilden der bildenden Kunst: Er befasst sich mit der Kleinplastik oder der monumentalen Aussenskulptur ebenso wie mit der Aktmalerei oder dem kunsthandwerklichen Dekor. Was als verbindendes Element ausgemacht werden kann, ist das Rhythmisch-Organische.
Geradezu musikalische Qualitäten weist seine gemalte Komposition mit drei Grazien auf, die sich in der Oberfläche eines an Monet erinnernden Seerosenteichs spiegeln. An eine Harfe wiederum erinnert seine Skulptur mit Stahldraht und schwarzem Granit unter dem bezeichnenden Titel «Musical Star I» von 1999.
Der menschliche Körper als zeichnerisches Werk
Rhythmisch durchkomponiert ist auch sein «Climbing Torso», ein Konstrukt aus weissen Marmorwürfeln und Chromstahl-Verstrebungen, das ähnlich wie Brancusis «Säule der Unendlichkeit» in den imaginären Raum zu wachsen scheint. Dieses Prinzip sollte Calatrava auch in seinen Eichenholz-Skulpturen sowie in dem riesigen Obelisken von 2009 vor dem Israel Institute of Technology in Haifa wiederaufnehmen.
Dass Santiago Calatrava dabei an organisches Wachstum denkt, verrät der Begriff Torso. Eine ähnliche Konstruktion aus schneeweissen Marmorwürfeln wird einer leichten Drehung unterzogen. Diesen «Turning Torso» hat der Künstler nach der Skizze eines sich leicht drehenden Männerkörpers entworfen.
Der menschliche Körper ist zentral in seinem künstlerischen, vorab zeichnerischen Werk. Oft glaubt man, es bei seinen weiblichen Akten überdies mit Aquarellen von Auguste Rodin zu tun zu haben. Zum Verwechseln ähnlich scheinen diese frei mit Bleistift und Wasserfarbe aufs Blatt geworfenen Studien. Sie sprechen dieselbe sinnliche Sprache wie die erotischen Aquarelle des grossen französischen Bildhauers.
Bei Rodin findet Calatrava denn auch die direkte Verbindung zwischen Skulptur und Architektur: Die Baukunst sei reine Manifestation von skulpturalen Volumen, wie es Rodin einmal formuliert hatte. Und all dies gründet bei Calatrava auf dem menschlichen Körper – auf der Schönheit, wie sie Calatrava in dessen natürlicher Harmonie erkennt: fünf Finger, die in eine Hand übergehen, dann in ein Handgelenk, und weiter in einen Arm und eine Schulter. Es folgt die Brust und schliesslich der ganze Körper. So fliesst alles ineinander in einer Körperarchitektur reinster Vollendung.
Höhepunkt der Immaterialität
Calatrava hat insbesondere den weiblichen Körper in langen Sitzungen mit Modellen studiert – und mit Kohle aufs Papier gebracht. Der Kohlestift gilt ihm dafür als das geeignetste Arbeitsmittel. Je nachdem, wie viel Druck er ausübt oder wie stark er den Strich mit dem Daumen verwischt, gelingt ihm die Imitation der Weichheit des Körpers, seiner Rundungen und des Lichts auf seiner Haut: eine Inkarnation mit Kohle auf Papier gleichsam. Für Calatrava sind solche Studien vergleichbar mit dem Schwarz-Weiss-Film, der allein mit Licht und Schatten Atmosphäre schaffe, wie er einmal bekannte.
Aber auch die klassisch-antike Auffassung vom Körper interessierte ihn. Calatrava hat sie in der Glyptothek in München studiert. Dort faszinierten ihn die Giebelfiguren des Frieses des Aphaia-Tempels auf der griechischen Insel Ägina. Die Figurenparade stellt den Krieg um Troja dar. Die sogenannten Ägineten – Griechen und Trojaner – sind in heftige Kämpfe verwickelt. In der Mitte ragt majestätisch Athena, die Schutzgöttin der Griechen, auf. Die Krieger aus weissem Marmor – nackte Soldaten, bewehrt mit kreisrunden Schildern – zählen zu den berühmtesten und schönsten Marmorskulpturen der Antike.
Calatrava interessierte sich dabei vor allem für die Wechselbeziehung zwischen menschlichen Gliedern in ihren harmonischen Bewegungsabläufen und dem Prinzip des Kreises in Gestalt der runden Schilder. Diesen Dialog deklinierte er in Zeichnungen, Aquarellen und schliesslich auch in Eisenskulpturen durch. Jedes dieser Werke erzählt dabei sein eigenes Drama und Heldenepos.
In diesen Arbeiten erinnert Calatrava nicht zuletzt auch daran, dass der menschliche Körper einst bedeutender Bestandteil der Architektur war. Ein Paradebeispiel ist der Parthenon-Tempel auf der Akropolis. Dessen berühmter Fries befindet sich im British Museum in London. Die antiken Darstellungen von Göttern und Helden, von unzähligen menschlichen Körpern in dramatischer Bewegung, haben Künstler von Giorgione über Manet bis Rodin inspiriert.
Beflügelnde Baukunst
Der Mensch sozusagen als das Mass aller Dinge in der Baukunst wie in der bildenden Kunst: Einer von Calatravas Kriegern aus Eisen hält gleich zwei Schilder hoch, als wollte er sich mit diesen kreisrunden Schwingen in die Lüfte erheben. Und in den Lüften zu Hause ist denn auch Calatravas Architektur. Beste Beispiele dafür sind sein Opernhaus in Valencia mit seinem schwebenden Dach oder sein Milwaukee Art Museum, das aussieht wie ein futuristisches Flugobjekt. Um eine leichte, beflügelnde und lichte Baukunst ist es ihm stets zu tun. Dabei fasziniert Calatrava insbesondere das Phänomen des Lichts.
Licht macht Materie einerseits erst sichtbar, anderseits aber ist es auch imstande, in seinem Widerschein alles Materielle zu entmaterialisieren. Wie dabei Architektur selbst zur reinen Lichterscheinung wird, hat Claude Monet nicht weniger als dreiunddreissig Mal in seinen Gemälden der Kathedrale von Rouen vorgeführt.
Anders als der Impressionist, aber mit demselben Ziel, spielte Calatrava die Immaterialität des Lichts auch schon in einer Serie von kinetischen Kunstwerken durch. Darin kombinierte er dünne, farbige Metallstreifen zu monochromen, dynamischen Wandreliefs. Von einem Motor bewegt, erzeugen diese Bilder ein faszinierendes Kaleidoskop von Farbschattierungen. Diese Werke in Calatravas Schaffen führen die Dematerialisierung von Farbe durch Licht vor Augen. Und darin liegt auch der Schlüssel zu seiner Baukunst der Leichtigkeit.
Santiago Calatravas bildnerisches Schaffen wird in einem sorgsam gestalteten und grosszügig bebilderten Katalogbuch erstmals umfassend vorgestellt. Der von Nick Mafi herausgegebene Band «Calatrava – Art» ist im Hirmer-Verlag erschienen (376 S., 310 Abb. 65 Euro).