Der jüdische Staat hat angekündigt, weite Teile der Küstenenklave permanent zu besetzen. Nach Donald Trumps Abreise aus der Region scheint ein Durchbruch in den Gesprächen immer unwahrscheinlicher.
Neunzehn Monate nach dem Massaker der Hamas erreicht der Krieg im Gazastreifen eine neue Stufe: In der Nacht auf Samstag hat die israelische Armee mitgeteilt, sie habe umfangreiche Angriffe in dem Küstengebiet begonnen und Truppen mobilisiert. Es handle sich um die eröffnenden Schritte der Operation «Gideons Streitwagen». Damit wolle man den Sieg über die Hamas und die Befreiung aller Geiseln erreichen. Zuvor hatte die Armee laut Berichten die Bevölkerung einiger Gebiete zur Evakuierung aufgefordert.
Das Ausmass der angekündigten Operation – sofern sie wie angekündigt umgesetzt wird – dürfte deutlich über Israels bisherige Kriegsführung hinausgehen. Geplant ist, weite Teile des Gazastreifens zu erobern und besetzt zu halten, um die Hamas und ihre Infrastruktur zu zerstören. Zwei Millionen Palästinenser sollen in ein kleines Gebiet im Süden gebracht werden, wo ein neues System zur Verteilung von Hilfsgütern aufgesetzt werden soll. Gleichzeitig will Israel die «freiwillige Emigration» von Palästinensern ermöglichen.
Schon in den vergangenen Tagen hatte Israel seine Luftangriffe auf den Gazastreifen intensiviert. Allein am Donnerstag und am Freitag sollen dabei nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Behörden mehr als 200 Menschen getötet worden sein. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen und unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten. Auch in der Nacht auf Samstag gab es laut Berichten in mehreren Teilen des Gazastreifens Luftangriffe und Artilleriebeschuss.
Israelische Delegation bleibt in Doha
Die Regierung von Benjamin Netanyahu hatte die Operation «Gideons Streitwagen» bereits Anfang Mai bewilligt und diese zu einer Art Entscheidungsschlacht über die Hamas stilisiert. Gleichzeitig kündigte Israel an, mit dem Beginn der Offensive bis zum Abschluss von Donald Trumps Reise an den Golf zuzuwarten und den Verhandlungen über eine Waffenruhe noch eine Chance zu geben.
Während seiner viertägigen Reise nach Saudiarabien, Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate hatte der amerikanische Präsident zwar zahlreiche Milliardenverträge präsentiert, doch der Krieg im Gazastreifen war kaum ein Thema. Nun ist Trump abgereist, und ein Durchbruch in den Gesprächen steht nach wie vor aus. Laut Medienberichten hatten die Amerikaner zwar starken Druck auf Israel und die Hamas ausgeübt, doch die Positionen der Kriegsparteien liegen offenbar zu weit auseinander.
Es scheint allerdings nicht ganz ausgeschlossen, dass in letzter Minute doch noch eine Einigung erzielt wird. Laut dem üblicherweise gut informierten Journalisten Barak Ravid wird eine israelische Verhandlungsdelegation bis mindestens am Samstagabend in Doha verbleiben. Zwar gebe es keine Fortschritte in den Gesprächen, aber die Chancen auf einen Durchbruch lägen nicht bei null. Es werde erwartet, dass das israelische Sicherheitskabinett um Benjamin Netanyahu erst am Sonntag eine finale Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen wolle.
Augenscheinlich erhofft sich Israel, durch verstärkten militärischen Druck die Hamas dazu zu bringen, sich den israelischen Bedingungen für eine Waffenruhe zu beugen. Auch ein Angriff auf das Europäische Spital im südlichen Gazastreifen vom Dienstag scheint in diesem Zusammenhang zu stehen: Dabei nahm Israel angeblich Mohammed Sinwar ins Visier, den Anführer der Hamas im Gazastreifen. Laut israelischen Angaben war seine kompromisslose Haltung einer der Hauptgründe für den Stillstand in den Verhandlungen. Allerdings ist bislang unklar, ob Sinwar – der Bruder des im vergangenen Oktober getöteten Yahya Sinwar – tatsächlich tot ist.
Im Prinzip scheitern die Gespräche stets an derselben Frage: Während die Hamas ein Bekenntnis Israels zu einem definitiven Ende des Krieges verlangt, will sich die Regierung Netanyahu höchstens auf eine temporäre Waffenruhe einlassen. Im März hatte Israel eine Waffenruhe einseitig gebrochen, weil man sich nicht auf Gespräche über ein Kriegsende einlassen wollte. So drohen Netanyahus rechtsextreme Regierungspartner mit dem Koalitionsbruch, sollte der Krieg beendet werden.
Neuer Plan zur Verteilung von Hilfsgütern
Die Hamas fühlt sich derweil von Donald Trump getäuscht. Am Montag hatte die islamistische Terrororganisation die amerikanisch-israelische Geisel Edan Alexander als «Geste des guten Willens» freigelassen. Offensichtlich erhoffte sich die Terrororganisation, dass Trump in der Folge Druck auf Israel ausüben würde, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Diese Hoffnungen scheinen sich zerschlagen zu haben.
Es bleibt unklar, inwiefern sich Trump noch in diesen verfahrenen Konflikt einbringen will. Am Freitag sagte er: «Wir müssen den Palästinensern helfen. Viele Leute verhungern in Gaza.» Im Verlauf des nächsten Monats würden «viele gute Dinge» passieren. Damit schien er aber vor allem auf ein von den USA initiiertes Projekt zur Verteilung von Hilfsgütern anzuspielen. Es sieht vor, Lebensmittel und Hygieneprodukte in mehreren humanitären Zentren an die palästinensische Bevölkerung zu verteilen und der Hamas die Kontrolle über die humanitäre Hilfe zu entziehen.
Bislang ist nicht bekannt, wann dieses Projekt starten soll. Internationale Hilfsorganisationen haben die Pläne stark kritisiert und angekündigt, sich nicht daran zu beteiligen. Seit mehr als zwei Monaten sind keinerlei Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen geflossen. Israel blockiert seit dem 1. März alle Grenzübergänge, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen. Die Ernährungslage in dem Gebiet hat sich deshalb jüngst dramatisch verschlechtert.
Palästinenser könnten nach Libyen umgesiedelt werden
Laut einem Bericht des amerikanischen Fernsehsenders NBC arbeiten die USA zudem an einem Plan zur dauerhaften Umsiedlung von bis zu einer Million Palästinensern aus dem Gazastreifen nach Libyen. Im Gegenzug könnte die libysche Regierung Gelder in Milliardenhöhe erhalten. Auch die israelische Regierung hatte gemäss Berichten jüngst versucht, Drittstaaten davon zu überzeugen, Palästinenser aufzunehmen. Bislang hat allerdings kein einziges Land zugesagt.
Der Chef des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen, Volker Türk, hat die Ausweitung der israelischen Offensive am Freitag scharf kritisiert. «Offenbar wird eine dauerhafte demografische Verschiebung im Gazastreifen angestrebt, die gegen das Völkerrecht verstösst und einer ethnischen Säuberung gleichkommt», hiess es in einer Mitteilung.
Auch die Familien der Geiseln übten am Freitag heftige Kritik an Israels Kriegsplänen. «Die historische Chance auf ein Abkommen für die Freilassung der Geiseln zu verpassen, wäre ein eklatanter Misserfolg, der für immer in Schande in Erinnerung bleiben wird.» Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Befreiung der Geiseln in der Liste der Kriegsziele der israelischen Armee auf den sechsten und letzten Platz gerutscht ist.