Wie die Ideologie der Bewegung die Geschicke Israels diktiert und den Krieg in Gaza bestimmt.
Es war ausgerechnet der Jom Hasikaron Ende April, der Gedenktag für die seit der Staatsgründung gefallenen Soldaten, als Ministerpräsident Benjamin Netanyahu öffentlich aussprach, was den meisten Israeli längst klar war: Es sei ihm zwar wichtig, die noch verbliebenen Geiseln in Gaza zu retten, aber noch wichtiger, die Hamas «vollständig zu besiegen». Damit verriet der Ministerpräsident das zionistische Ethos, unter keinen Umständen irgendjemanden «zurückzulassen».
Für ausländische Beobachter war es lange Zeit unerklärlich, weshalb israelische Soldaten in gefährlichsten Kriegszonen ihr Leben riskierten, um sogar die Leiche eines Kameraden zu retten. Dabei lässt sich dies ganz einfach mit der jüdischen Verfolgungsgeschichte und der Shoah erklären. Nur deswegen liess Israel sogar für Tote Hunderte Gefangene frei, häufig Terroristen mit jüdischem Blut an ihren Händen.
Die Israeli sind nicht glücklich über solche Disproportionalität, dennoch stellt niemand diesen moralischen Imperativ infrage. Die Rettung jedes einzelnen Juden, tot oder lebendig – das war bislang die Antwort auf die Vernichtung jüdischen Lebens in der Geschichte.
Netanyahus gebrochene Versprechen
Doch ausgerechnet Netanyahu scheint nun diesen israelischen Konsens gebrochen zu haben – er, der noch 2011 über tausend Palästinenser für den in Gaza gefangenen Soldaten Gilad Shalit freiliess. Wie ein «vollständiger Sieg» gegen die Hamas aussieht, ist in Israel hoch. umstritten, vor allem, weil es kaum klare Vorstellung für die Zeit danach gibt. So geht der Krieg einfach immer weiter, selbst wenn Geiseln und immer mehr Soldaten sterben müssen, von der palästinensischen Zivilbevölkerung einmal ganz abgesehen.
Damit unterwirft sich Netanyahu dem Postulat seiner beiden rechtsextremistischen Minister, des Finanzministers Bezalel Smotrich und des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir. Beide gehören zur radikalen Siedlerbewegung, und sie zwingen Netanyahu ihre religiös-ideologische Agenda auf, indem sie drohen, die Regierung zu verlassen, wenn nicht immer weitergekämpft wird. Für sie ist jüdischer Boden wichtiger als jüdisches Blut.
Netanyahu aber fürchtet nichts mehr als den Zusammenbruch seiner Koalition und damit den Verlust seines Amtes. Seine schier unersättliche Machtgier, aber mehr noch die Angst vor einer Verurteilung im Prozess wegen mutmasslicher Korruption in drei Fällen machen Netanyahu zum Spielball der beiden extremistischen Politiker.
In der Regierungskoalition sind es vor allem Smotrich und Ben-Gvir, die seit Kriegsbeginn deutlich sagen, was sie wollen. Zusammen mit der radikalen Siedlerbewegung und anderen Politikern formulierten sie bereits während eines Kongresses im Januar 2024 ihre Forderungen: die komplette Wiedereroberung und Annektierung Gazas, den Wiederaufbau jüdischer Siedlungen in den Küstenstreifen und möglichst auch noch die Vertreibung der Palästinenser.
Damals versicherte Ministerpräsident Netanyahu dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden noch, dass so etwas nie geschehen würde. Möglicherweise hat er das auch gemeint. Doch inzwischen scheint sich auch Netanyahu radikalisiert zu haben. Er spricht zwar nicht von Siedlungen in Gaza, dafür aber von einer dauerhaften Besetzung Gazas, aus «Sicherheitsgründen».
700 000 Israeli leben als Siedler in den besetzten Gebieten
Gaza ist der Stachel im Fleische der Siedlerbewegung. 2005 entschied der damalige Ministerpräsident Ariel Sharon, die rund 8000 Siedler und die Armee vollständig aus «Gush Katif», wie das Siedlerprojekt in Gaza genannt wurde, abzuziehen. Im Vorfeld gab es darüber heftige Auseinandersetzungen in der Knesset und auf den Strassen Israels. Die Siedlerbewegung entschied sich damals noch für den gewaltfreien Protest.
Diese nationalreligiösen Fundamentalisten waren sicher, dass Gott die Evakuierung verhindern werde. Sie verschanzten sich in ihren Synagogen, viele zogen KZ-Häftlingskleidung an, weil sie ihre Vertreibung von der eigenen Armee provokant mit dem Vorgehen der Wehrmacht und der SS gleichstellten.
Ein grosser Teil der Israeli war erleichtert, ab jetzt mussten ihre Söhne nicht mehr 8000 Fanatiker inmitten von 2 Millionen hasserfüllten Palästinensern schützen und dabei ihr Leben riskieren.
Bei den Siedlern wirken die Bilder von damals bis heute nach. Deswegen sagen heute jüngere Siedler, dass sie eine erneute Auflösung von Siedlungen nie wieder kampflos zulassen würden. Sie sind teilweise militanter als noch ihre Eltern, und sie versuchen ihre Agenda immer weiter der israelischen Bevölkerung aufzuzwingen.
Doch wer ist diese Siedlerbewegung?
Man spricht heute von rund 700 000 Israeli, die im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem leben. Sie machen nicht einmal ein Zehntel der israelischen Gesamtbevölkerung aus. Wenn man bedenkt, dass viele von ihnen mit finanziellen Anreizen bereit wären, ins Kernland Israel umzuziehen, so bleiben schätzungsweise 250 000, die man zum radikalen Kern der Siedler zählen kann. Deren sogenannte erste Generation begann als «Gush Emunim», als «Block der Getreuen». Fast alle Führungsfiguren der späten 1960er und 1970er Jahre erhielten ihre religiös-ideologische Erziehung in der Merkaz Haraw Jeschiwa, der Religionsschule von Raw Zvi Yehuda Kook in Jerusalem.
Das religiöse Dilemma der Ultraorthodoxen
Es war die Zeit, als Israel 1967 im Sechstagekrieg neben den Golanhöhen auch Gaza und vor allem das Westjordanland mit Ostjerusalem eroberte. Nach 2000 Jahren gerieten die wichtigsten heiligen Stätten des Judentums wieder in jüdische Hand. Dazu gehörte der Tempelberg mit der Klagemauer, der Westmauer des zweiten jüdischen Tempels, dazu gehörten die Grabstätten der Stammväter und -mütter in Hebron und bei Bethlehem sowie Gräber der Propheten. Im Westjordanland, biblisch: Judäa und Samaria, spielte sich obendrein die eigentliche jüdisch-biblische Geschichte ab.
Raw Zvi Yehuda Kook gab seinen Schülern nach der Eroberung der Gebiete quasi einen Auftrag. Sie sollten das eroberte Gebiet besiedeln, das Teil von Eretz Israel, dem Gelobten Land, ist, um es auf die Ankunft des Messias vorzubereiten. Zvi Yehuda Kook entwickelte damit die Theologie seines Vaters Raw Abraham Isaac Kook weiter, der 1935 starb. Dieser war der erste aschkenasische Oberrabbiner Palästinas und einer der wichtigsten religionsphilosophischen Denker seiner Generation.
Kook fand damals eine Antwort auf ein theologisches Dilemma der ultraorthodoxen Juden mit dem neuen Staat Israel. In den Heiligen Schriften heisst es, dass erst mit der Ankunft des Messias wieder ein jüdischer Staat entstünde. Anders als das Christentum wartet das Judentum noch auf dessen Kommen.
Der Zionismus dagegen führte die religiöse Überzeugung der Frommen ad absurdum. Die ursprünglich säkulare Befreiungsbewegung weigerte sich, auf den Messias zu warten, sie wollte «jetzt» einen jüdischen Staat. Als dann 1917 der britische Aussenminister Lord Balfour den Juden eine «nationale Heimstätte in Palästina» versprach, brach Entsetzen unter den Ultraorthodoxen aus. Wie konnte Gott diesen blasphemischen Zionisten solch einen Erfolg gewähren? Ein theologisches Problem.
Die Zionisten als die Handwerker Gottes
Doch Raw Abraham Isaac Kook löste das Dilemma mit einem Gleichnis, das er der Thora entnahm. Im heiligen Tempel in Jerusalem gab es einen Raum, der das Allerheiligste genannt wurde. Dort befand sich nicht nur die Bundeslade, sondern auch die Schechina, die sichtbare Gegenwart Gottes. Nur der Hohepriester durfte diesen Raum betreten, und auch das nur ein einziges Mal im Jahr, am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur. Dann bat er Gott um Vergebung für die Sünden des ganzen Volkes.
Doch wie jedes Gebäude musste auch der Tempel regelmässig gereinigt und renoviert werden. Natürlich auch das Allerheiligste. Dafür wurden alle heiligen Gegenstände entfernt, der Tempel war jetzt sozusagen lediglich ein Gebäude, die Handwerker konnten damit auch den allerheiligsten Raum betreten. Nach Beendigung der Arbeiten wurde in einer feierlichen Prozession der Tempel jedes Mal wieder neu geweiht und die Heiligkeit etabliert.
Der Vater Kook erklärte, die säkularen Zionisten seien die «Handwerker Gottes», die das Gelobte Land, Jahrhunderte unter Fremdherrschaft, auf die Ankunft des Messias vorbereiteten. Raw Zvi Yehuda Kook, der Sohn, entwickelte die Theologie logisch weiter. Mit der Eroberung des gesamten Landes Israel 1967, was allein schon als göttliches Zeichen gedeutet wurde, galt die Besiedlung der «befreiten Gebiete», wie die Siedler sie nannten, als göttliche Pflicht.
Der Kampf der Liberalen gegen eine messianische Vision
Hier kommen Ben-Gvir und Smotrich wieder ins Spiel. Smotrich will in völliger Übereinstimmung mit dieser «messianischen Theologie» Gaza annektieren und zum integralen Bestandteil Israels machen, ebenso wie das Westjordanland, wo er als Finanzminister den Siedlungsbau fördert. Dasselbe Ziel hat auch Ben-Gvir, der obendrein ein Anhänger des von einem Palästinenser 1990 ermordeten Rabbi Meir Kahane ist.
Kahane war ein militanter Araber-Hasser. Dass Smotrich und Ben-Gvir nun als Vertreter der Siedlerbewegung in Ministerämtern sitzen, liegt nicht nur daran, dass Netanyahu 2022 sie brauchte, um eine Koalition zu bilden. Es ist auch das Ergebnis eines jahrzehntelangen «Marsches durch die Institutionen». Obwohl prozentual nicht entscheidend, gelang es den Anhängern von «Gush Emunim», wichtige Schaltstellen in der Justiz, im Militär, in der Politik und im Bildungswesen zu besetzen.
Der Krieg in Gaza ist für Ideologen wie Smotrich und Ben-Gvir ein wichtiger Schritt, ihre Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Das Westjordanland soll folgen, die Gewalt, die auch dort zunimmt, ist gewünscht. Nach einem brutalen Siedlerüberfall auf das palästinensische Städtchen Huwara, der von einem ranghohen Militär als Pogrom bezeichnet wurde, sprach sich Smotrich 2023 dafür aus, Huwara zu vernichten. Er musste zwar verbal zurückrudern, doch die Idee eines «letzten Krieges» zur endgültigen Eroberung des gesamten «Landes Israel» schwingt bei alldem mit.
Aus diesem Grund muss der gegenwärtige Krieg für die Siedlerbewegung immer weitergehen, ohne Rücksicht auf die israelischen Geiseln, ohne Rücksicht auf die Palästinenser. Der Kampf des liberalen Israel gegen die eigene Regierung ist daher längst auch ein Kampf gegen diese «messianische Vision».