Influencer in sozialen Netzwerken behaupten, das Stresshormon Cortisol verursache ein dickes Gesicht und sei «verantwortlich» für allerlei Gebrechen. Sie empfehlen eine Entgiftung von dem Hormon. Dabei braucht der Körper Cortisol, um zu überleben.
Welches Gesicht liegt eher im Trend: ein rundes, dickliches oder ein schmales? Die Botschaft in sozialen Netzwerken ist unmissverständlich. Ein Mondgesicht gilt nicht nur als unansehnlich, sondern auch als krankhaft.
«Du bist nicht hässlich – du hast nur ein Cortisol-Gesicht»: Mit diesem Motto erklärt die amerikanische Wellness-Unternehmerin Mandana Zarghami auf der Videoplattform Tiktok, warum das eigene Äussere womöglich nicht ganz den hochgesteckten Ansprüchen genügt. Neben ihr gibt es Hunderte von Lifestyle- und Beauty-Influencern, die ebenfalls vom griffigen Ausdruck «cortisol face» sprechen.
Viele der Influencer teilen Vorher-nachher-Fotos auf ihren Accounts: Sie scheinen zu beweisen, dass Cortisol für ein breites Gesicht sorgt. Die Ursache sei Alltagsstress, der den Cortisolspiegel im Körper in die Höhe treibe. Eine Entgiftung von dem Stresshormon, ein Cortisol-Detox, verschlanke dagegen die Kiefer- und Wangenpartien auf ansehnliche Weise, helfe zudem gegen Bauchfett, alternde Haut oder schwächelnde Konzentration. Diverse Techniken zum Stressabbau, balancierende Hormon-Tees oder Speichel-Selbsttests auf Cortisol werden oft gleich mit angepriesen.
Es stimmt ja durchaus: Zu viel Cortisol schadet. Man nimmt heute an, dass chronische Stresszustände, bei denen die Belastung nicht wieder abklingt, beispielsweise Schmerzen, Schlafstörungen oder psychische Beschwerden verursachen können – und zwar aufgrund des erhöhten Cortisolspiegels. Haben die Influencer also recht? Was sagen Fachleute zu dem Hype um das Hormon?
Eine Entgiftung von Cortisol ist nicht zu empfehlen
«Es ist zweifellos zu begrüssen, wenn sich Menschen mit der Wirkung von Hormonen auseinandersetzen», sagt der Endokrinologe Felix Beuschlein vom Universitätsspital Zürich zu dem Social-Media-Trend. Der Wunsch nach einem langen und gesunden Leben spiele dabei vermutlich ebenso hinein wie die zunehmend verbreitete Vorstellung, den eigenen Körper durch Self-Tracking kontrollieren zu müssen. Und nicht zu vergessen: Ein hübsches Gesicht wird in den heutigen Bildschirm-Welten für den privaten wie den beruflichen Erfolg immer wichtiger.
Und doch: Fachleute warnen davor, die Cortisolspiegel aus solchen Gründen drücken zu wollen. «Dieser Trend ist gefährlich, weil er völlig verkennt, dass es sich bei Cortisol um ein lebensnotwendiges Hormon handelt», so die Hamburger Hormonspezialistin Birgit Harbeck kürzlich beim Deutschen Kongress für Endokrinologie. Zwar seien manche der zum Cortisol-Detox empfohlenen Massnahmen wie Sport, Entspannung und gesunde Ernährung durchaus hilfreich, um eine Stressbelastung zu verringern. Doch eine «Entgiftung» von Cortisol, so die Medizinerin, «ist nicht möglich und auch nicht das, was wir wollen».
Dass Cortisol schadet, ist nämlich nur zum Teil wahr. Höchste Zeit also, auch seine anderen Facetten kennenzulernen.
Nicht nur ein Stresshormon, auch ein Leistungshormon
Gebildet wird Cortisol in den beiden Nebennieren – kleinen, eigenständigen Organen unmittelbar oberhalb der Nieren. Die Nebennierenrinde produziert ausser Cortisol noch weitere Hormone, die mit ihm chemisch verwandt sind; allesamt entstehen sie aus Cholesterin als Ausgangsmolekül. Zu diesen sogenannten Steroidhormonen gehören etwa Androgene mit vermännlichender Wirkung oder das für die Nierenfunktion wichtige Aldosteron.
Unter all diesen Hormonen besitzt das Cortisol einen besonderen Nimbus – und gilt als «böse». Das zeigt sich eben daran, dass es vor allem als Stresshormon bekannt ist. «Man könnte Cortisol genauso gut als Leistungshormon bezeichnen», sagt der Zürcher Endokrinologe Felix Beuschlein. Denn es hilft dem Organismus, akute Belastungen zu meistern – und wird dabei als Teil der physiologischen Stressantwort freigesetzt. Eine längere Joggingstrecke etwa könnten wir ohne Cortisol gar nicht laufen, von einem Marathon ganz zu schweigen.
So lässt Cortisol das Herz kräftiger schlagen, es erhöht Blutdruck und Atemfrequenz. Es stimuliert die Glucoseproduktion in der Leber, um dem Hirn genug Energie zur Verfügung zu stellen. Und es steigert die Wirkung von Adrenalin und schärft in Stresssituationen sogar die Aufmerksamkeit. Zugleich werden weniger dringliche Funktionen gedrosselt, etwa die Verdauung. Auch hemmt Cortisol Entzündungsprozesse und greift in vielfältiger Weise in immunologische Vorgänge ein.
Wie Cortison in Cortisol umgewandelt wird
Gerade die Fülle der Effekte erschwert eine simple Charakterisierung des Cortisols – und hat Forscher immer wieder fasziniert. Als im Jahr 1948 der amerikanische Arzt Philip Hench erstmals einer Patientin mit schwerem Rheuma die inaktive Form des Cortisols – nämlich Cortison – injizierte, verschwanden prompt deren Gelenkschmerzen. Cortison (oder Kortison) entsteht natürlicherweise nur in geringen Mengen im Körper, doch wird es als Medikament verabreicht, verwandelt es die Leber in das physiologisch aktive Hormon Cortisol.
Die Erforschung der Nebennierenrinden-Hormone erwies sich als bahnbrechend – und war 1950 den Nobelpreis für Medizin wert, unter anderem für den Schweizer Chemiker Tadeus Reichstein. Ab den 1950er Jahren kamen synthetisch hergestellte Präparate auf den Markt, die die natürliche Hormonwirkung imitieren oder sogar übertreffen und umgangssprachlich ebenfalls als «Cortison» bezeichnet werden. Ärzte lindern damit unterschiedlichste Leiden, von Schuppenflechte, Asthma und Arthritis bis hin zu Multipler Sklerose und anderen Autoimmunerkrankungen. Immer wieder wurden die Medikamente als Wundermittel gepriesen – oder mit Sorge betrachtet.
Berüchtigt sind die Nebenwirkungen einer langfristigen, hochdosierten Cortison-Therapie, etwa steigende Blutzucker- und Cholesterinwerte oder die Neigung zu Muskelabbau und Knochenschwund.
Darüber hinaus führen insbesondere Tumore in der Nebenniere oder Erkrankungen im hormonellen Steuerzentrum des Gehirns, der Hypophyse, mitunter zu einem Cortisol-Überschuss. Ist die Störung ausgeprägt, sprechen Mediziner von einem Cushing-Syndrom – eben hierbei kommt es auch zu Umverteilungen im Fettgewebe, mit einem «Stiernacken» oder einem «Vollmondgesicht» als charakteristischer Folge.
Mit dem von Influencern beschriebenen «cortisol face» hat das Cushing-Syndrom gleichwohl wenig zu tun. «Alltagsstress allein führt keineswegs zu einem Mondgesicht», so Beuschlein. Das echte Syndrom (sofern es durch Krankheitsprozesse im Körper und nicht durch eine Cortison-Behandlung ausgelöst wird) tritt bei schätzungsweise zwei bis acht von einer Million Menschen jährlich auf. Augenscheinlich verwechseln manche Medfluencer das schwere und seltene Leiden mit der Sorge um ein Beauty-Ideal.
Cortisol-Tests für zu Hause
Wer ihm anhängt, müsse deshalb noch lange nicht seine Cortisol-Werte bestimmen, monieren Kritiker einen Trend, der rund um das Gerede vom «cortisol face» entstanden ist: Influencer bewerben in sozialen Netzwerken frei verkäufliche Selbsttests, um den persönlichen Cortisol-Wert zu bestimmen. Derlei Hormontests für zu Hause (die dann zur Auswertung in ein Labor eingeschickt werden) seien «bequem, aber unsicher» und führten bisweilen zu irreführenden Scheindiagnosen, stellte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie unlängst klar.
Schon allein im Tagesverlauf schwanken die Cortisol-Werte enorm, mit einem ausgeprägten Hoch am Morgen und einem Tief um Mitternacht – was die Interpretation der Tests erschweren kann. Auch sind vorübergehende Cortisol-Spitzen durch Stressreize völlig normal: Bei sonst gesunden Personen reguliert der Körper die Hormonproduktion in der Nebenniere durch die übergeordneten Steuermechanismen des Gehirns automatisch von selbst.
Nicht zuletzt wird in der Diskussion schnell übersehen: Auch zu geringe Mengen an Cortisol sind gefährlich. «Wo es ein Zu-Viel gibt, gibt es auch ein Zu-Wenig», bemerkt Beuschlein. Besonders eindrücklich zeige sich dies bei der sogenannten Addinsonschen Krankheit, die oft durch eine Autoimmunentzündung der Nebennierenrinde ausgelöst wird und zu einem riskanten Cortisolmangel führt. «Ohne Therapie ist der Morbus Addison lebensbedrohlich», so der Hormonspezialist.
Abfallender Blutdruck, Schwäche und Übelkeit, Salzhunger und Angstzustände können auf die Krankheit hindeuten. Drastische Verläufe, sogenannte Addison-Krisen, führen sogar zu Schockzuständen – ohne sein Cortisol bricht der Körper förmlich zusammen. Ihr Leben lang benötigen die Betroffenen daher eine Hormonersatztherapie.
Einer der berühmtesten Patienten: John F. Kennedy, der ehemalige US-Präsident. Kennedy, von Nebennierenschwäche geplagt, nahm dauerhaft Cortison, um zu funktionieren. Bemerkenswerterweise hing auch sein stets sportlich gebräuntes Gesicht vermutlich mit seinem Addison-Leiden zusammen. Tatsächlich wird die Hormonstörung gelegentlich als Bronzehaut-Krankheit bezeichnet.
Salopp liesse sich sagen: Kennedy war durch seine Nebennierenschwäche schwer krank – bestach dafür aber mit einem beneidenswerten Teint. Ein Cortisol-Detox jedenfalls wäre wohl das Letzte gewesen, was er hätte brauchen können.
Ein Artikel aus der «»