Der Fachkräftemangel trifft auch die Kirche. Ein theologisches Teilstudium soll engagierte Kirchenmitglieder zum stellvertretenden Pfarrdienst befähigen. Eine Antwort an Martin Grichting.
Die reformierte Kirche wolle «die durch Mitgliederschwund überdimensionierten Kirchenstrukturen personell aufrechterhalten», behauptet Martin Grichting in der NZZ (10. 4. 25) und nimmt einen aktuellen Notfallplan gegen Pfarrmangel zum Anlass, einmal mehr die ewig gleiche Litanei der angeblichen Selbstsäkularisierung der Kirche und ihrer staatlichen Korrumpierung vorzutragen.
Die Zürcher Landeskirche richtet ihre Pfarrstellen konsequent an der Zahl ihrer Mitglieder aus. Sinken die Mitgliedszahlen, werden sie im selben prozentualen Ausmass gekürzt. Dass der Autor den Eindruck hat, unsere Kirche lebe über ihre Verhältnisse, scheint eher darauf zurückzuführen zu sein, dass er sich ihrer Grösse nicht bewusst ist.
Noch immer sind über 360 000 Personen im Kanton Zürich Mitglied der reformierten Kirche, die zusammen mit der katholischen Körperschaft denn auch zu den grössten Organisationen im Kanton gehört. Zum Vergleich: Sämtliche Zürcher Sportvereine zusammengezählt versammeln halb so viele Mitglieder wie die beiden Kirchen.
Dass die Landeskirche kontinuierlich Mitglieder verliert, ist zum einen der Demografie und zum andern dem glücklichen Umstand geschuldet, dass sich heute jede Person frei entscheidet, Mitglied einer Religionsgemeinschaft zu sein.
Das Zürcher «Staatskirchentum», wie Grichting es nennt, reduziert sich bei nüchterner Betrachtung auf Strukturen, die so pragmatisch wie erfolgreich sind: Als autonome öffentlich-rechtliche Körperschaften kapseln sich die Kirchen nicht von der Gesamtgesellschaft ab, sondern stellen ihre Tätigkeiten der Allgemeinheit zur Verfügung. Der Staat könnte ihre Leistungen in eigener Regie kaum erbringen. So zeichnet sich die von den Kirchen verantwortete Seelsorge an Spitälern dadurch aus, dass sie Patientinnen und Patienten einen unabhängigen Gesprächsraum öffnet.
Mit professionell ausgebildetem Personal sind die anerkannten Kirchen in der Öffentlichkeit präsent. Von der Gemeinde gewählte Pfarrpersonen verantworten die theologische Reflexion des Gemeindelebens. Voraussetzung für ihren Dienst ist ein universitäres Theologiestudium. Das soll sich auch in Zukunft nicht ändern.
Um dem Fachkräftemangel, der die Kirche wie andere Branchen trifft, zu begegnen, lancierten die reformierten Kirchen einen Studiengang für Quereinsteigende. Er stösst seit zehn Jahren auf reges Interesse und entschärft den Mangel teilweise. In Planung ist zudem ein neuer Bachelorstudiengang, der Studierenden ermöglicht, bereits vor dem Master Berufserfahrung zu sammeln. Dennoch könnte sich in den kommenden Jahren der Pfarrmangel akzentuieren, weshalb das Deutschschweizer Konkordat für die Pfarrausbildung einen temporären Notfallplan prüft und zur Diskussion stellt.
Ein theologisches Teilstudium soll engagierte Kirchenmitglieder, die über einen akademischen Abschluss verfügen und über 55 Jahre alt sind, zum stellvertretenden Pfarrdienst befähigen. Laut Grichting wären solche Personen nicht in der Lage, «inhaltlich Christliches» fundiert zu bezeugen und zu verkünden. Ein Evangelium, dessen sachgerechte Verkündigung allein dem Klerus vorbehalten sein soll, erweckt hingegen Argwohn, insbesondere unter Reformierten.
Der von Grichting zur Kritik des «Staatskirchentums» herangezogene Heinrich Heine nahm ebendiesen Klerus in den Fokus, wenn er über Religion spottete. Heine mokierte sich über Priester und Pfarrherren, die glaubten, sie hätten die Wahrheit für sich gepachtet und könnten «das Volk, den grossen Lümmel,» mit ihren Phantasien «einlullen». Das Göttliche für alle Menschen zurückzuerobern und ins Diesseits zu involvieren, das war Heines demokratische und durchaus protestantische Absicht, gegen die sich sowohl der Staat als auch der Vatikan mit dem Verbot seiner Werke zur Wehr setzten.
Die Gegenfrage, die Grichting unbeantwortet lässt: Wer soll für die fundierte Verkündigung beauftragt werden, wenn zu wenig ausgebildetes Personal zur Verfügung steht? Das katholische Modell, dass ein Priester mehrere Gemeinden bedient, ohne das Gemeindeleben mitzutragen und im Gespräch mit den Menschen vor Ort zu sein, ist genauso wenig eine reformierte Lösung wie der Verzicht auf akademische Theologie. Unsere Landeskirche sucht die Auseinandersetzung mit ihren Mitgliedern und der säkularen Welt und den Dialog mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, mit denen zusammen sie für die Gesamtgesellschaft tätig ist.
Über real existierende Alternativen zum Zürcher Religionsmodell schweigt sich Grichting aus. Ein Blick in die USA oder nach Frankreich lässt erkennen: Die im Kanton Zürich transparent gestaltete Partnerschaft von Staat und Religionsgemeinschaften ist kein Auslaufmodell. Sie stellt vielmehr eine tragfähige Basis dar, Religion in ihrer pluralen Gestalt als Teil des öffentlichen Lebens in die Zukunft zu führen.
Esther Straub ist Pfarrerin, Kirchenratspräsidentin der Reformierten Kirche Kanton Zürich und Präsidentin der Konkordatskonferenz für die Aus- und Weiterbildung der reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer.