Er hat die Plastik revolutioniert und in seiner Kunst den Leerlauf gefeiert. Jean Tinguely hat die absurdesten und unproduktivsten Maschinen hinterlassen, die das Industriezeitalter je gesehen hat.
Er ist der Daniel Düsentrieb der Schweizer Kunstgeschichte. Wie aber bei so vielen anderen Kunstschaffenden aus der Schweiz, die es zu Ruhm und Ehre brachten, wurde man zuerst im Ausland auf den Maschinenkünstler Jean Tinguely aufmerksam. Danach erst fand er auch in seiner Heimat zunehmend Anerkennung.
Die italienische Presse ignorierte zwar das anarchisch-provokative Spektakel vor dem Mailänder Dom: Es war zu später Stunde und schon längst Redaktionsschluss, als Tinguely im November 1970 einen riesigen Phallus in die Luft gehen liess. Der über zehn Meter hohe Penis explodierte aber immerhin vor den Blicken von rund 8000 Zuschauern und schätzungsweise 5000 Tauben.
«Vittoria» – Sieg – nannte Tinguely seine ephemere Skulptur, die den Untergang des Symbols von Männlichkeit darstellten sollte. Und das war durchaus als bissiger Kommentar des Schweizer Künstlers zur hitzig geführten Debatte um das Frauenstimmrecht in seiner Heimat zu verstehen – Tinguely war ein Fürsprecher der Gleichberechtigung. Die Schweiz führte das Stimmrecht für die Frauen erst 1971 auf Bundesebene ein als eines der letzten Länder in Europa.
Das hoch aufgerichtete Objekt bestand aus einem Gerüst, das mit einem goldenen Tuch überzogen war. Im Innern befand sich ein maschinelles Räderwerk sowie Sprengstoff und Feuerwerk. Die Reichweite einiger Feuerwerkskörper betrug über 200 Meter. Eine grosse Herausforderung war es, die Konstruktion zu tarnen, die Feuerwehrmänner zu täuschen und für die Sicherheit der Zuschauer zu sorgen. «Ich habe bei dieser Gelegenheit 4 Kilo abgenommen», notierte Tinguely dazu.
Vulva als Eingang
Die Schweizer Presse hätte Tinguely ob dieser nächtlichen Aktion wohl Geschmacklosigkeit vorgeworfen, wenn nicht Schlimmeres. Keinen Spass verstand sie bereits 1966 bei seiner Kooperation für «Sie» mit seiner Lebenspartnerin Niki des Saint Phalle. Das war eine im Moderna Museet in Stockholm errichtete riesige und begehbare Skulptur in Form einer liegenden Frau. Zugang zu «Sie» erhielt man durch die Vulva.
Das Innenleben dieser Skulptur war voller Überraschungen: Der Nabel des schwangeren Bauches war ein Aussichtsturm. In den Brüsten gab es eine Milchbar, in der einen Wade eine Rutschbahn für Kinder. «Der Bund» schrieb über diesen angeblich subversiven Angriff auf den guten Geschmack auf der Frontseite: «Riesenweib in Stockholm. Skandalöses ‹Meisterfabrikat› des protegierten Schweizer Popisten Jean Tinguely».
Zwei Jahre zuvor, 1964 an der Landesausstellung in Lausanne, baute er seine Grossplastik «Heureka» auf. Das Gebilde aus rostroten Zahnrädern, Stangen, Hebeln und Gummiriemen vermochte nur wenige zu begeistern. Denn in Betrieb machte das wirre Konstrukt einen höllischen Krach.
Nach der Expo kaufte der Kunstmäzen Walter A. Bechtler die Maschinerie, um sie der Stadt Zürich als Dauerleihgabe zur Verfügung zu stellen. Worauf sich ein Disput über den umstrittenen Künstler entspann. Skepsis, Unverständnis und Ablehnung prägten den Streit um den richtigen Standort der ratternden Skulptur des Maschinen-Anarchos. Die NZZ erbarmte sich der «Heureka»: «Das Urteil darüber, ob sie nur eine kunstvolle Konstruktion oder ob sie ein Kunstwerk sei, wird nicht heute, sondern morgen gefällt werden.»
Stadt und Kunsthaus allerdings erachteten die lärmige Eisenplastik für zu gefährlich und schoben sie ans Zürichhorn am Seeufer ab, wo sie noch heute steht. Der Krach um die verschmähte Krachmaschine war letztlich viel Lärm um nichts. Heute ist die künstlerische Bedeutung der «Heureka» unbestritten.
Räder-Fetischist
Jean Tinguelys Vorliebe für Schrott war notorisch. Man fand ihn oft bei der Materialsuche auf Schrottplätzen. Dort hatten es ihm vor allem alte Räder angetan. Sein Fetisch war das Rad: «Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht», lautete der Glaubenssatz des 1991 in Bern im Alter von 66 Jahren verstorbenen Künstlers: «Der Tod ist der Übergang von einer Bewegung in die andere», notierte Tinguely auch einmal. Und zelebrierte mit seinem schillernden Räder-Werk den Leerlauf als Selbstzweck. Seine Schrott-Assemblagen sind zwar Maschinen, die auf Knopfdruck in Betrieb genommen werden können. Sie produzieren aber nichts.
Die sinnlosen Bewegungen dieser Automaten zielen allerdings weniger auf Nonsens ab als vielmehr auf einen kreativen Umgang mit Industriematerial als künstlerischem Ausdruck des Maschinenzeitalters. Tinguely verstand sich als Romantiker, der die Maschine zur Poesie erhob.
Seine Liebe für die «Macchina» spiegelte sich nicht zuletzt in seiner Begeisterung für den Rennsport. Und insbesondere in seiner Leidenschaft für die Sportwagen der Marke Ferrari. Tinguely fuhr zeitlebens einige der schönsten Modelle, die in den Werkhallen von Maranello je gebaut wurden. Der wachsende Berühmtheitsgrad als Künstler ermöglichte ihm diese kostspielige Passion.
Kunst als Spass
Wichtig für Tinguelys Karriere waren die USA. Erste Erfolge konnte er 1960 mit einer gigantischen Maschine im Garten des Museum of Modern Art in New York feiern. Die Konstruktion aus Schrott zerstörte sich selbst. Sie war sozusagen der Vorläufer des Kunst-Happenings.
Die medienwirksame Aktion öffnete Tinguely die Türen zu wichtigen Galerien, Sammlungen und Museen in den USA. Einen ersten europäischen Achtungserfolg erzielte er zur selben Zeit in Düsseldorf mit seinen bereits 1955 erfundenen Zeichnungs-Maschinen, die dort in der Galerie Iris Clert zum Publikumsmagneten wurden.
Die Automaten konnten auf Papierbahnen maschinelle Zeichnungen im Stil von Jackson Pollock anfertigen. Damit nahm Tinguely den genuinen Werkprozess des Künstlergenies auf die Schippe. Überhaupt: Tinguely verstand Spass. Für die Eröffnung des Centre Pompidou 1977 in Paris schuf er zusammen mit dem Eisenplastiker Bernhard Luginbühl, dem Objektkünstler Daniel Spoerri und Niki de Saint Phalle eine Riesenskulptur, in der sich auch eine Geisterbahn befand.
Etwas so Populärkulturelles wie eine Chilbi-Geisterbahn konnte in Tinguelys Augen Kunst sein. Wohl nicht zuletzt auch, weil das viel mit Mechanik, mit Wagen, Rädern und Schienen zu tun hat. Zum hundertsten Geburtstag des am 22. Mai 1925 in Freiburg geborenen Künstlers erinnert das Museum Tinguely in Basel an das damalige Spektakel im Centre Pompidou und hat eine historische Geisterbahn gemietet. Es handelt sich um eine der ältesten noch existierenden Bahnen dieser Art. In den vergangenen Jahrzehnten war sie jeweils in Basel auf der Herbstmesse in Betrieb.
Die Bahn wurde samt Wägelchen in ihrem Originalzustand im Park vor dem Museum aufgebaut. Die ursprüngliche Einrichtung allerdings wurde ausgeräumt und durch die absurden Einfälle der britischen Künstlerin Rebecca Moss und des Schweizer Künstlers Augustin Rebetez ersetzt. Für beide Kunstschaffende war Tinguely ein wichtiges Vorbild.
Die gut eine Minute und zwanzig Sekunden dauernde Fahrt ist denn auch ganz im Geist des grossen Maschinenkünstlers gehalten: Es kracht und knallt, man rattert in einer haarsträubenden Höllenfahrt an schaurig untoten Geistern aus der Kunstgeschichte vorbei. Und rammt dabei um ein Haar auch eine grosse Geburtstagstorte.
«Scream Machines – Kunst-Geisterbahn von Rebecca Moss und Augustin Rebetez», Museum Tinguely, Basel, bis 30. August.