Der Meinungsforscher Khalil Shikaki gilt als Seismograf der palästinensischen Bevölkerung. Bei einem Treffen in Ramallah erklärt er, warum eine Mehrheit der Palästinenser Gewalt befürwortet – und weshalb ein Frieden trotzdem möglich ist.
Herr Shikaki, Israel hat vor wenigen Tagen eine neue Grossoffensive im Gazastreifen lanciert. Es ist Israels längster Krieg seit 1948. Wie unterscheidet sich der Gaza-Krieg von anderen Kriegen in der Geschichte des Nahostkonflikts?
Dieser Krieg ist nicht anders. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wollte Israel so viele Palästinenser vertreiben wie möglich, damit der neue Staat überleben konnte. Ich glaube, das versucht Israel gerade wieder. Das Ausmass der Zerstörung und die Zahl der Todesopfer sind beispiellos, aber nicht das zugrunde liegende politische Ziel. Was am 7. Oktober geschehen ist, liefert für manche Israeli die Rechtfertigung für das, was die israelische Armee gerade tut. Aber der Plan, womöglich Hunderttausende Palästinenser zu vertreiben – die israelische Regierung nennt das «freiwillige Emigration» –, ist eine direkte Fortsetzung der Politik des Staatsgründers David Ben-Gurion.
Wollen Sie behaupten, Israel habe in allen Kriegen versucht, immer möglichst viele Palästinenser zu vertreiben?
Nein. Das war definitiv nicht das Ziel in den Kriegen von 1956, 1967 oder 1973. Der einzige zutreffende Vergleich ist der Unabhängigkeitskrieg von 1948, in dessen Verlauf Hunderttausende Palästinenser ihre Heimat auf dem Gebiet des neu gegründeten Staates Israel verloren haben. Was Israel jetzt tut, könnte erhebliche Konsequenzen für die Zukunft der israelisch-palästinensischen Beziehungen haben.
Welche wären das?
Genauso wie 1948 könnte dieser Krieg zu einer Verhärtung auf beiden Seiten führen und einen Friedensschluss sehr viel schwieriger machen. Trotzdem bleibt Frieden möglich. Das sind menschengemachte Entscheidungen, und wir können künftig wieder Verhandlungen aufnehmen. Die Frage ist, ob die Beziehungen irreversibel beschädigt sind. Das könnten sie sein, falls die Hamas künftig die palästinensische Nationalbewegung anführt.
Das ist nicht unwahrscheinlich. Gemäss einer neuen Umfrage, die Ihr Institut durchgeführt hat, befürworten 50 Prozent der Palästinenser bis heute den Terrorangriff der Hamas.
Das ist ein Rückgang im Vergleich zu der Zeit direkt nach dem Angriff. Aber schon vor dem 7. Oktober hat eine Mehrheit der Palästinenser Gewalt befürwortet. Sie unterstützten die Gewalt nicht, weil sie keinen Frieden mit Israel wollen – die Hälfte derjenigen, die Gewalt befürworten, wollen auch eine Zweistaatenlösung. Aber viele haben keinen diplomatischen Ausweg mehr gesehen und waren der Ansicht, dass Gewalt die einzige Lösung ist.
Trotzdem behaupten bis heute 90 Prozent aller Palästinenser, die Hamas habe am 7. Oktober keine Greueltaten begangen. Woher kommt diese Realitätsverweigerung?
Es liegt an den Informationsquellen der meisten Palästinenser. Dass die Hamas am 7. Oktober Frauen und Kinder ermordet hat, wird nur in westlichen und israelischen Medien gezeigt, denen Palästinenser nicht vertrauen. Al-Jazeera zeigt diese Bilder nicht. Die meisten Befragten sagen, dass sie die Videos der Greueltaten nie gesehen hätten.
Ist die «freiwillige Emigration» von Palästinensern aus dem Gazastreifen ein realistisches Ziel der israelischen Regierung?
Nein, ganz und gar nicht. Nicht, weil die Palästinenser nicht gehen würden. Die Hälfte der Menschen in Gaza wollen den Küstenstreifen verlassen – nur will sie niemand aufnehmen und sich an einem Kriegsverbrechen mitschuldig machen. Nichts anderes wäre die Vertreibung der Palästinenser. Wenn kein Krieg herrschte, wäre das anders. Aber in einem Kriegszustand gibt es keine «freiwillige Auswanderung».
Warum ist die Situation in Gaza anders als etwa in der Ukraine oder in Syrien, wo Hunderttausende das Land verliessen, als der Krieg ausbrach? Weshalb öffnet Ägypten seine Grenzen nicht, um den Menschen Schutz zu bieten?
In Syrien und der Ukraine wurden die Menschen zwar vertrieben, aber sie können auf eine Rückkehr hoffen. Ihre Nachbarländer haben sie als temporäre Flüchtlinge aufgenommen, bis der Krieg vorbei ist. Ägypten geht davon aus, dass Israel die Menschen langfristig vertreiben will, inklusive einer vollständigen Wiederbesetzung des Gazastreifens und möglicher neuer jüdischer Siedlungen. Daher verfolgt Ägypten eine extreme Politik und lässt keine Menschen aus dem Gazastreifen hinein.
Laut Netanyahu könnte der Krieg sofort enden, wenn die Hamas alle Geiseln freiliesse, ihre Waffen niederlegte und ins Exil ginge– ähnlich wie Yasir Arafat 1982. Warum lässt sich die Terrororganisation darauf nicht ein?
Erstens vertraut sie Netanyahu nicht. Sie geht davon aus, dass Israel sie ins Exil zwingen und anschliessend trotzdem seine Pläne von Besetzung und Vertreibung umsetzen wird. Zweitens glaube ich nicht, dass sich die Hamas als Verliererin in diesem Krieg sieht. Drittens hat Arafat 1982 mit der PLO Libanon verlassen und nicht palästinensisches Land. Daher bezweifle ich stark, dass sich die Hamas jemals auf eine Entwaffnung und ein Exil einlässt. Es sei denn, eine Übereinkunft würde ein Ende der israelischen Besetzung und das Schaffen eines palästinensischen Staats beinhalten.
Die Hamas lehnt eine Zweistaatenlösung ab und will Israel zerstören. Wie realistisch ist es, dass diese Organisation Flexibilität zeigt?
Das haben einst auch die Fatah und die PLO proklamiert. Sie haben sich verändert. Ausserdem vertritt die Hamas hinter verschlossenen Türen andere Positionen, als sie es in der Öffentlichkeit tut. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Hamas unter bestimmten Bedingungen eine Zweistaatenlösung akzeptiert.
Dann müsste immer noch die Bevölkerung mitspielen: Wie Sie selbst sagten, befürwortet rund die Hälfte der Palästinenser Gewalt gegen Israel. Wie kann die palästinensische Gesellschaft deradikalisiert werden?
Die Antwort ist einfach: Israel muss seine Besetzung beenden. Es muss einen realistischen politischen Prozess für eine Zweistaatenlösung geben. Und die Palästinensische Autonomiebehörde muss gestärkt werden. Nicht mit Waffen oder Soldaten – sie muss mehr Legitimität erhalten. Die Menschen dürfen nicht das Gefühl haben, dass die Behörde ihnen ihren Willen aufzwingt. Mit einer starken, rechenschaftspflichtigen Autonomiebehörde gäbe es keine Gewalt in den palästinensischen Gebieten.
Viele Israeli sehen das anders: 70 Prozent lehnen einen palästinensischen Staat ab. Sie befürchten, von diesem Staat könnte neuer Terror ausgehen. Und auch die Mehrheit der Palästinenser will keine Zweistaatenlösung.
Es stimmt, dass eine Mehrheit auf beiden Seiten eine Zweistaatenlösung ablehnt. Wenn man aber Israeli und Palästinensern erklärt, wie eine Zweistaatenlösung ihre Bedingungen erfüllen würde, sehen wir eine Veränderung. Wenn wir Palästinenser fragen, ob sie eine Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967 akzeptieren, sehen wir eine Zustimmungsrate von 60 Prozent. Ähnlich ist es auch bei jüdischen Israeli, wenn wir hinzufügen, dass Palästina ein entwaffneter Staat wäre, der Israel anerkennt. Früher mussten wir für eine Zustimmung nicht ausführen, wie eine Zweistaatenlösung aussieht. Damals herrschte Optimismus. Heute ist es anders. Aber wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, würde eine Mehrheit auf beiden Seiten immer noch einen schmerzhaften Kompromiss akzeptieren.
Zur Person
Der Seismograf der Palästinenser
rew. · Khalil Shikaki wurde 1953 im Gazastreifen geboren. Seine Familie stammt aus einem palästinensischen Dorf, das einst südlich von Tel Aviv lag. Während Shikaki in Beirut studierte und in New York promovierte, radikalisierte sich sein älterer Bruder Fatih. Dieser gründete 1981 die Terrororganisation «Palästinensischer Islamischer Jihad» und wurde 1995 mutmasslich vom Mossad getötet. Khalil Shikaki ist heute einer der angesehensten palästinensischen Sozialwissenschafter. Jahrzehntelang hat der 72-Jährige mit israelischen und amerikanischen Forschern zusammengearbeitet. Shikaki gilt mit seinem unabhängigen «Palestinian Center for Policy and Survey Research» in Ramallah als der wichtigste Demoskop in den palästinensischen Gebieten.