Einst deuteten die Walliser die Naturkatastrophen als Zeichen Gottes. Jean-Jacques Rousseau war verzaubert von der Bergwelt, Rainer Maria Rilke mochte sie nicht. Heute stellt sich die Frage, welchen Anteil der Fortschritt am Bergsturz von Blatten hat.
Wir hätten es wissen können. Es steht in den Walliser Sagen. In mindestens zwei verschiedenen Versionen. Die Sagen sind «aus dem Volksmunde gesammelt», wie die Herausgeber Johannes Jegerlehner 1913 und Josef Guntern 1963 schreiben. Die antisemitische Legendenfigur des «Ewigen Juden», der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung beleidigte und dafür von diesem zur ewig rastlosen Wanderschaft verurteilt wurde, hat die Katastrophe von Blatten vorhergesagt.
Der Untergang von Lötschen
Der ewige Jude soll auf seinem ersten Gang in Lötschen den Untergang des Tales prophezeit haben.
Blatten wird von den weissen Schnecken untergraben, der hangende Gletscher wird Wiler in den Bannwald schlagen, Kippel, das auf Schwarzerlen gebaut ist, wird von der Lonza fortgespült, und Ferden wird vom Golnbach in die Kreschärru hinabgeschlagen.
Nicht eine Schneckenplage, sondern zehn Millionen Kubikmeter Geröll, Schlamm und Eis haben das Dorf Blatten zerstört. Es ist eine Katastrophe von biblischem Ausmass. Bergsturz, Gletscherabbruch und Sintflut in einem. Die Medien liefern Bilder wie aus einem Katastrophenfilm von Roland Emmerich. Die gewaltige Staubwolke, die nach dem Gletscherabbruch wie ein Dämon von Goya durchs Tal raste, liess mich an einen Vulkanausbruch denken. An den Vesuv, der 79 nach Christus die Stadt Pompeji unter einer dicken Schicht aus Vulkanasche und Bimsstein begrub, was dazu führte, dass grosse Teile der Stadt erhalten blieben und bis heute ausgegraben werden.
Blatten ist aber nicht Pompeji. Die herabdonnernden Gesteins- und Eismassen haben den historisch wertvollen Kern des Dorfes, drei Hotels, die Kirche und auch den Friedhof innert Sekunden vollständig und für immer zerstört. Wir sind Zeugen eines kleinen Weltuntergangs, blicken schaudernd und gebannt auf den grauen Schuttkegel. Die Apokalypse hat ihre Blütezeiten seit je in schwierigen und unübersichtlichen Zeiten.
Solidarität und Fragen nach dem Warum
Es ist wie immer bei Katastrophen. Die Menschen rücken zusammen, zeigen eine eindrückliche Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die alltäglichen Fehden und Scharmützel sind für ein paar Wochen vergessen.
Wir wissen es längst: Der Klimawandel befördert die Instabilität der Berge, und das Auftauen des Permafrostes beschleunigt die Gletscherschmelze. Langfristig, so sagen die Experten, wird sich die Schweiz den Schutz vieler Dörfer in den Alpen nicht mehr leisten können.
Für das Wallis verheisst das nichts Gutes. Kein anderer Kanton ist im gleichen Masse von Bergen und Gletschern umgeben. Wie ungerecht, stöhnen die Walliser, dass ausgerechnet wir den Preis des Klimawandels bezahlen müssen. Dabei blenden sie gern aus, dass sich die Berge seit eh und je immer wieder gnadenlos gegen die Menschen gestellt haben.
Das Gebirge als Unort
Für unsere Vorfahren war die Bergwelt über Jahrhunderte unheimlich und gefährlich. Die Walliser Sagensammlungen erzählen von Giftbozen (Geistern) mit Rossfüssen im Goms, von einem unheimlichen schwarzen Hund im Simplongebiet, von einer Riesenschlange im Baltschiedertal oder von einem menschenverschlingenden Drachen im Vispertal. Im Lötschental war es nicht anders: Berggeister, Hexen und selbst der Teufel bedrohten Land und Leute. Im Langgletscher zuhinterst im Tal büssten bis zum Hals eingefrorene arme Seelen ihre Sünden ab.
Die Kirche und der Fürstbischof, die das Land über Jahrhunderte regierten, beförderten diesen Aberglauben. Mit gutem Grund. Das Leben im Wallis war bis ins 20. Jahrhundert rau und entbehrungsreich. Allein die Gegenwart Gottes in der Dorfmitte vermittelte Hoffnung. Das Gebet hielt das Volk aufrecht, die Menschen riefen ihre Beschützer im Himmel an, die sie vor Krankheit, Feuer, Bergsturz und Gletscherabbruch bewahren sollten. Wenn Trockenheit und Dürre herrschten, führte der Dorfpfarrer die Bittprozession der Gläubigen zur Gletscherzunge.
In den Prozessionen bittet die Bergbevölkerung Gott um Schutz: Kirchweih in Blatten 1945 (links). Auch die Bevölkerung von Ferden im Lötschental nimmt an religiösen Ritualen teil wie 19einer Seelentröstung (rechts).
Das höchste Ziel der Menschen war das ewige Leben im Paradies, dessen Verheissungen das tägliche Elend vergessen liessen. Meine in den 1930er Jahren geborenen Eltern, die die Armut ihrer Kindheit ihr Leben lang in den Knochen hatten, erlebten mit, wie sich das Wallis modernisierte und ihnen einen kleinen Wohlstand brachte.
Ein Lob auf Land und Leute
Die Anfänge dieser grossen Transformation liegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als das Wallis und seine Bergkolosse von Schriftstellern wie Jean-Jacques Rousseau und William Coxe bereist und hymnisch besungen wurden. Rousseau war verzaubert von der Landschaft, der Armut und «Simplicität» des einfachen Bergvolks. «Sollten sie je mehr Geld haben», schreibt er im Briefroman «La nouvelle Héloïse» (1761), «so werden sie zuverlässig ärmer seyn.»
Im 19. Jahrhundert kamen Heerscharen von schwärmenden Reiseschriftstellern und Malern, die Engländer bestiegen die Berge, die ersten Berg- und Touristenhotels wurden erbaut. Auf Tragsesseln trugen die Walliser die reichen Touristen gegen Geld zu den Aussichtspunkten auf die Gemmi oder zum Aletschgletscher. Bekannte Autoren wie der Waadtländer Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947) schrieben erfolgreiche Bergromane («Die grosse Angst in den Bergen»), die vom naturverbundenen und harten Leben einfacher Menschen erzählten.
Rainer Maria Rilke, der seine letzten Jahre im Wallis verbrachte, war eine Ausnahme. Er mochte die Berge nicht, er liebte das damals noch unversehrte Haupttal und dessen südliches Licht. «Statt zu fliehen», dichtete er in «Die Walliser Vierzeiler» («Quatrains Valaisans») über seine letzte Wahlheimat, «stimmt es sich selber zu, dies Land, ist masslos und ist sanft, bedroht und doch gerettet.»
Chappaz, der provokative Mahner
Mit der stetig wachsenden Faszination begann sich im späten 19. Jahrhundert auch die Sicht der Einheimischen auf ihre Bergwelt zu verändern. Der boomende Tourismus versprach wirtschaftlichen Aufschwung. Strassen wurden gebaut, Industrie siedelte sich an, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein ganzes Tal mit Skigebieten übersät.
Einer, der früh schon wortgewaltig gegen die ungestüme Zerstörung der Natur und die blinde Profitgier wetterte, war der Unterwalliser Dichter Maurice Chappaz. «Die Berge sind ein einziges Schlachthaus», schrieb er 1968. «Den Alpen zieht man die Hosen aus.» In seinem Pamphlet «Die Zuhälter des ewigen Schnees» (1976) findet sich ein Satz, der sich wie ein provokatives Menetekel auf den Untergang von Blatten liest. «Per anum haben sie das Land gefickt, bis dass die Firne wie Eisberge auf sie herniederfallen.»
Im alten Wallis wurden Naturkatastrophen religiös überhöht und gedeutet. Die Menschen sahen sie als von Gott geschickte Warnzeichen für ihr sündhaftes Verhalten, als Aufforderung, Busse zu leisten und Gutes zu tun. Heute sieht man in Naturkatastrophen kaum mehr göttliche Strafmassnahmen. Geblieben vom klerikalen Weltbild ist die Frage nach der Schuld. Sind der Bergsturz und der Gletscherabbruch im Lötschental natürliche Vorgänge, wie es sie im Alpengebiet seit je gibt? Oder verweisen sie auf das Sündenregister des modernen Menschen? Ist der Klimawandel und damit der Mensch Mitverursacher dieses Unglücks?
Noch ist die Tragödie im Lötschental nicht überstanden. Die ganze Schweiz hofft, dass sich die Prophezeiung des «Ewigen Juden» nicht weiter erfüllt und die gestaute Lonza nicht zur gefährlichen Flutwelle wird. Ein prophetischer Satz von Maurice Chappaz führt uns vor Augen, wie man vielleicht in gar nicht so ferner Zukunft über den Untergang von Blatten sprechen wird: «Die Berge haben Anker gelichtet.»
Der Schriftsteller, Historiker und Filmemacher Wilfried Meichtry ist in Leuk im Kanton Wallis geboren. In seinen Werken befasst er sich immer wieder mit dem Wallis, so u. a. im Roman «Nach oben sinken» (2023) oder im Dokumentarfilm «Ich war ein Anderer. Gespräche mit Maurice Chappaz» (2025).