Die Schriftstellerin und Philosophin wurde früh zu einer Kultfigur, die sich allen Etiketten entzog. Eine Ausstellung in München zeigt ihre schillernde Vielseitigkeit.
Susan Sontags Mutter war Alkoholikerin, und die Tochter tat, was viele Kinder von alkoholsüchtigen Eltern machen: Sie flüchten sich in Phantasiewelten. Susan Sontag verkroch sich in die Welt von Comics und Büchern. Ihre Intelligenz half ihr, mit drei Jahren hatte sie lesen gelernt.
1933 in New York geboren, blieb Sontag ihr Leben lang eine Flüchtende, bis zu ihrem Krebstod 2004 war sie getrieben von unstillbarer Neugier, fast manischer Rastlosigkeit. Das ganze Leben erlebbar machen, das war ihr Credo. «Everything matters», alles zählt, notierte sie 1949 mit 16 Jahren in ihr Tagebuch. So lautet auch der Titel einer Ausstellung über die Schriftstellerin Susan Sontag im Literaturhaus München.
Die Eltern, Mildred und Jack Rosenblatt, handelten mit Pelzen im damals noch sehr fernen China. Susan und die jüngere Schwester Judith überliessen sie in New York bald den Grosseltern, dem Kindermädchen oder der Köchin. Als der Vater 1938 in China an Tuberkulose starb, kehrte die Mutter zurück. Susan litt an Asthma, und da die kapriziöse Mutter deren Ringen nach Luft nicht ertrug, zog man nach Florida – mit seinem schwülen Klima freilich der falsche Ort für Asthmatiker – und weiter ins wüstentrockene Arizona.
Unglücklich («Ich hatte keine Mutter, ich hatte diese eiskalte Frau») und intellektuell verkannt, in der Schule unterfordert und als Jüdin angefeindet, blieb ihr nur das Lesen. Den Bestand der Stadtbibliothek von Tucson hatte sie in einem Jahr durch, die ersten zwei Klassen übersprang sie. «Im Grunde denke ich, dass Schopenhauer unrecht hat», befand die Vierzehnjährige.
Sie sammelte alles, auch Liebhaber
Freunde findet man mit so viel Frühreife nicht, selbst im vergleichsweise grossstädtischen Los Angeles, dem nächsten Stopp. Als die Mutter den Kriegsveteranen Nathan Sontag heiratete, nahmen die Töchter seinen Namen an. Sontag sei zwar auch jüdisch, so Susan, aber nicht so «hässlich und fremdländisch» wie Rosenblatt.
Nach Berkeley, Chicago, Sorbonne, Oxford und Harvard landete die promovierte Philosophin und Literaturwissenschafterin wieder in New York – der einzigen Stadt, die all ihre Interessen, Sehnsüchte, Ansprüche und Bedürfnisse zufriedenstellen konnte.
New York wurde daher ins Münchner Literaturhaus geholt. Die Vitrinen ziehen sich durch Strassenschluchten, umrahmt von riesigen Häuserzeilenfotos. Sie lassen sinnlich Sontags Rastlosigkeit nachempfinden, ihre Neugier, ihre Reiselust, ihre Sammelleidenschaft. Sie sammelte alles – Kunst, Souvenirs, Porträts, Kitsch, Bücher sowieso, Liebhaber und Liebhaberinnen. Auf Fotos und Videos sieht man die vollgepferchte New Yorker Wohnung eines intellektuellen Messies. «Die Welt war ihr Thema», sagte ihr langjähriger Schriftstellerfreund Paul Auster.
Eine fast panische Angst, im Leben etwas zu versäumen, eine unstillbare Lust auf Inspiration trieb sie von vormittags bis nachts durch Kinos, Galerien, Theater, Klubs, Konzerte und in ihre Stammrestaurants. Kurz vor Mitternacht ging es noch in eine Buchhandlung, Amphetamine hielten sie bis in den Morgen wach. Schlafen empfand sie als Lebenszeit raubende Zumutung.
Zu einer Zeit, in der die Konventionen Frauen empfahlen, sich Familie, Haushalt und einem adretten Aussehen zu widmen, stand Sontag an Rednerpulten, sass auf Podien, protestierte gegen den Vietnamkrieg. Ein Faksimile der FBI-Akte über die Anti-Kriegs-Demonstrantin ist ausgestellt. Ihren Sohn David nahm die alleinerziehende Linksintellektuelle einfach mit. Sontag hatte ihn 1952 als 19-Jährige zur Welt gebracht, in ihrer kurzen Ehe mit dem elf Jahre älteren Soziologiedozenten Philip Rieff. Im Nachhinein wirkt auch die Ehe wie ein versehentlich gewählter weiterer Fluchtort.
Die frühen Werke waren schwerverständliche Kost. Aber ihr Verleger Roger Straus erkannte ihre vermarktbare Aura. Blitzgescheit, gutaussehend, durchdringende, wache Augen unter der Mähne, Cowboystiefel und Ledermantel: Das hatte Kultpotenzial, das war Glamour-Girl, Femme fatale, Enfant terrible in einem. Ihr Biograf Benjamin Moser nennt sie «eine der fotogensten öffentlichen Personen ihrer Zeit». Bald verlangten auch angesagte Hochglanz- und Literaturmagazine nach ihr, und Sontag lieferte Essays, inzwischen leichter verdaulich.
Sie versteckte sich hinter vielen Masken
Ihre Vielfalt macht sie bis heute schwer zu fassen. Wer und was war Susan Sontag? Universalintellektuelle? Gesellschaftskritikerin? «Ich bin mir nicht sicher, welchem Zweck meine Arbeit dient», bekannte sie 1962 in ihrem Tagebuch. Lexika deklarieren sie als Schriftstellerin, Autorin, Kulturkritikerin, Fotografin, Filmregisseurin. Denn auch Letzteres betrieb sie, natürlich mit Leidenschaft, aber mässigem Erfolg.
Neben Norman Mailer habe Sontag immer «am meisten Lärm gemacht», meinte Paul Auster. Ihr Lärm, ihre Unerschrockenheit konnte durchaus entgleisen. Sätze wie «Die weisse Rasse ist das Krebsgeschwür der Menschheitsgeschichte» (1967) oder die Polemik, die sie nach den Terroranschlägen vom 11. September gegen die amerikanische Regierung und Gesellschaft verfasste, zeigen, dass Scharfsinn nicht vor Bosheit und Zynismus schützt.
Immer war sie darauf bedacht, sich nicht kategorisieren zu lassen. Weder praktizierte sie ihr Judentum, noch bekannte sie sich dazu. Ihre Bisexualität machte sie nie wirklich öffentlich, auch nicht die langjährige Beziehung zur Starfotografin Annie Leibovitz, die unter dieser Geheimniskrämerei litt. Die heutige Identitätspolitik wäre der linken Sontag vermutlich ein Greuel; vereinnahmen liess sie sich nicht, Unabhängigkeit, vor allem geistige, war ihr heilig. Aus dem Verstecken hat sie das Beste gemacht.
«Susan Sontag. Everything Matters», Literaturhaus München, bis 30. November.