Der Schriftsteller und Zeitzeuge Christoph Hein verbrachte einen Grossteil seines Lebens in der DDR und zieht nun eine bittere, aufrichtige Bilanz.
Das Etikett «Chronist der DDR» hängt ihm schon lange an. Mit seinem Roman «Das Narrenschiff» scheint Christoph Hein diese Zuschreibung nun noch einmal beglaubigen zu wollen. Darauf deutet schon das Motto hin, das er dem Buch vorangestellt hat. Es ist ein Wort von Goethe und lautet: «Hartnäckig wird es Welt und Nachwelt leugnen: Du schreib es treulich in dein Protokoll.» Damit sind Sprachstil und Erzählhaltung des Romans klar benannt: Der Autor gibt zu Protokoll, was vorgefallen ist, und das ist hier nicht weniger als die Geschichte der DDR von ihrer Entstehung bis zu ihrem Untergang.
Getreu diesem Vorsatz verzichtet Christoph Hein auf einen einzelnen Protagonisten oder gar einen Ich-Erzähler, sondern verteilt die Handlung auf eine Gruppe von Personen, die stellvertretend für alle stehen, die die DDR aufgebaut, an sie geglaubt, von ihr profitiert und letztlich durch ihre ideologische Verblendung, ihre Sturheit und Inkompetenz zu deren Scheitern beigetragen haben.
Altnazi wird Kommunist
Da ist, um nur die wichtigsten zu nennen, der altgediente Genosse, der aus dem Moskauer Exil zurückkommt, um ein neues, ein besseres Deutschland aufzubauen. Da ist der zum lupenreinen Kommunisten mutierte Altnazi, der von seiner Vergangenheit nichts mehr wissen will. Da ist der jüdische Intellektuelle, der nach Jahren der Emigration weder im Osten noch im Westen oder gar in der Schweiz Fuss zu fassen vermag. Da ist die junge Frau, deren jüdischer Geliebter Deutschland hat verlassen müssen und in der rettenden Schweiz nie angekommen ist. Und da ist schliesslich Kathinka, die gemeinsame Tochter, die gegen Ende des Buches den Pfarrerssohn und Logik-Studenten Rudolf Kaczmarek – Alter Ego des Autors – heiraten wird.
Beginnend mit der Rückkehr der ersten Genossen aus dem Moskauer Exil am 1. Mai 1945 und endend mit den Wochen nach dem Mauerfall am 9. November 1989, folgt der Schriftsteller den Schicksalen seines Personals durch die Geschichte der DDR. Hein zeichnet deren Auswirkungen auf das Leben eines jeden Einzelnen nach: ein literarisch ambitioniertes Verfahren, das aber auch seine Tücken hat. Denn wer sich aufs reine Protokollieren beschränkt, läuft Gefahr, über dem Typischen das Individuelle aus den Augen zu verlieren und statt Menschen aus Fleisch und Blut Pappkameraden zu schaffen, mit denen man beim Lesen nicht warm werden kann.
Diese Gefahr vermochte Christoph Hein leider nicht immer ganz zu umgehen. Und man würde der trockenen Geschichtslektionen wohl bald einmal überdrüssig, gäbe es da nicht immer wieder diese Passagen, in denen die innere Beteiligung des Autors und Zeitzeugen wider alle Absicht spürbar wird und die Figuren zu leben beginnen.
Etwa dann, wenn Karsten Emser, Ökonomieprofessor und hochrangiges Politbüromitglied, sich im Gespräch mit seiner Frau der Frage nach der eigenen Mitschuld am stalinistischen Terror stellt. Wie so viele hat auch Emser gewusst, was geschah, und hat geschwiegen, um die eigene Haut zu retten und vom Glauben an den Sozialismus nicht lassen zu müssen.
An Stellen wie diesen bekommt der bis dahin so teilnahmslose Bericht Risse, durch die Gefühle wie Enttäuschung, Trauer und Scham zutage treten und den Leser berühren. «Wir haben den Spiegel zerbrochen, um uns nicht selbst darin sehen zu müssen», lautet Emsers Bilanz am Ende der Szene. Und man fragt sich, wer da spricht, nur die Figur, oder nicht auch der Autor, der sie geschaffen hat?
Wider besseres Wissen
Das Gespräch zwischen Karsten Emser und seiner Frau ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie Christoph Hein von seiner sich selbst auferlegten Position des Protokollanten immer wieder abweicht und die eigene Anteilnahme, die eigenen Zweifel und auch die eigene Enttäuschung zu Wort kommen lässt. Obwohl längst desillusioniert, hat er selbst bekanntlich nicht zu denen gehört, die die DDR offen angriffen oder ihr gar den Rücken kehrten, sondern ist geblieben und hat versucht, sich und den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben: ein Narr auch er? Denn Narren – das macht er immer wieder deutlich – sind nicht nur jene, die die DDR formten, sie lenkten und unterstützten, sondern auch jene, die sich wider besseres Wissen mit ihr arrangierten.
Es ist eine bittere Bilanz, die Christoph Hein hier am Abend seines Lebens zieht, aber auch eine sehr aufrichtige. Dass ihm, wenn von der Schweiz die Rede ist, topografisch wie sprachlich peinliche Fehler unterlaufen sind, ist aus Schweizer Sicht ärgerlich, schmälert jedoch nicht die Leistung, die hinter dem Buch steht.
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Suhrkamp 2025. 751 S.
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