1405 veröffentlicht eine französische Philosophin und Schriftstellerin ein erstaunliches Buch: In «Das Buch von der Stadt der Frauen» entwirft Christine de Pizan die Utopie einer Gesellschaft, in der Frauen gleiche Rechte haben wie Männer. Wer war diese Frau?
Man muss leer schlucken, wenn man die mittelalterlichen Texte gelehrter Männer über Frauen liest. «All ihre Handlungen sind abgeschmackt und verrückt. Niemals tut eine Frau Gutes, vielmehr zerstört und vernichtet sie es», heisst es in Jean de Meungs «Rosenroman» von 1280. Ihre Ehemänner würden Qualen unter ihnen leiden. Ausserdem gebe es keinen einzigen Krieg, «der nicht auf eine Frau und deren üble Brut zurückginge». So geht es über 10 000 Verse.
Wenn man Christine de Pizans «Le Livre de la Cité des Dames» von 1405 hervorholt, darf man aufatmen. Also doch: Es gab Gegenstimmen, ziemlich selbstbewusste und scharfe sogar. «In meinem Innern war ich verstört und fragte mich, was die Ursache dafür sein könnte, dass so viele und so verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und noch immer neigen, in ihren Reden, Abhandlungen und Schriften derartig viele teuflische Widerwärtigkeiten über Frauen und ihre Lebensumstände zu verbreiten», schrieb de Pizan.
Seit letztem Jahr liegt «Das Buch von der Stadt der Frauen» in neuer Übersetzung vor, verfasst von der Romanistin und Christine-de-Pizan-Forscherin Margarete Zimmermann. «De Pizan war die erste Frau, die mit dieser Wucht des Wortes und erfolgreich gegen misogyne Tendenzen ihrer Zeit angeschrieben hat», sagt Margarete Zimmermann im Gespräch. Wie kommt eine Frau im späten Mittelalter dazu, so forsch und unerschrocken zu schreiben?
Schreiben gegen die Armut
Christine de Pizan wuchs in gehobenen Verhältnissen in Venedig auf. Ihr Vater war Arzt und Astrologe, ihre Mutter stammte aus dem norditalienischen Adel. Als Christine de Pizans Vater vom französischen König Charles V. an den Hof berufen wurde, zog die Familie nach Paris. Dort wuchs Christine umgeben von Büchern auf, vermutlich hatte sie sogar Zugang zur gewaltigen Bibliothek des Königs. Mit 15 heiratete sie Étienne du Castel, einen königlichen Sekretär und Schreiber.
Wenig später brach Christine de Pizans Leben auseinander. Innerhalb von nur zehn Jahren starb erst der König, dann der Vater und schliesslich ihr Ehemann. Mit 25 wurde de Pizan zur Witwe, die ihre zwei Kinder, ihre Mutter und ihre Geschwister versorgen musste. Da de Pizans Vater die finanziellen Angelegenheiten der Familie vernachlässigt hatte, verschlechterte sich das soziale und finanzielle Ansehen der Familie rasant.
Christine de Pizan entschied sich nicht dazu, rasch neuen männlichen Schutz zu suchen. Eine zweite Ehe habe sie bewusst abgelehnt, sagt Margarete Zimmermann. Sie wollte nicht erneut Familienmutter werden, sondern schlug einen für das späte Mittelalter ungewöhnlichen Weg ein. Christine de Pizan wurde Autorin und Verlegerin.
Die Schreibwerkstatt
1399 gelingt ihr mit «Cent Ballades» der Durchbruch als Autorin. Neben Liebesgedichten enthält der Band auch politische Gedichte, zu denen die durch ihr eigenes Schicksal gefärbten Witwenklagen gehören. Darin wirft sie dem Adel vor, seine Pflichten gegenüber Witwen und Waisen zu vernachlässigen.
Schnell fand Christine de Pizan Patronen und Mäzene, unter ihnen mächtige Frauen wie die Königin Isabeau de Bavière. De Pizan wurde zur Chefin ihrer eigenen Schreibwerkstatt, wo sie von einem Kopisten und vermutlich von ihrem Sohn Jean unterstützt wurde. De Pizan war nicht nur Autorin, sie stellte ihre Schriften auch selbst her. Denn noch war der Buchdruck nicht erfunden, und Texte mussten von Hand abgeschrieben werden.
Um 1400 entfachte de Pizan einen Gelehrtenstreit um das Frauenbild im damals sehr populären «Rosenroman». Laut Margarete Zimmermann sind die dort propagierten Vorstellungen von Weiblichkeit etwa mit den frauenfeindlichen Aussagen des heutigen «Haters» Andrew Tate vergleichbar, der auf der Plattform X über 8 Millionen Follower hat. Christine de Pizan schrieb in Briefen gegen Jean de Meung und sein Buch an. Frühhumanisten und zahlreiche andere oft anonym agierende Befürworter des «Rosenromans» versuchten de Pizan zum Schweigen zu bringen.
«Doch die winzige Mücke, die einen starken Löwen angreift», so schrieb de Pizan in einem Brief, lasse sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Sie sammelte alle Briefe, überreichte sie der Königin Isabeau de Bavière und machte die Debatte öffentlich. «Mit diesem geschickten politischen Schachzug gelang es ihr, den ‹Rosenroman› und dessen Verteidiger radikal infrage zu stellen», sagt Zimmermann.
Eine Stadt aus Worten
Als 1405 «Das Buch von der Stadt der Frauen» erschien, war Christine de Pizan in Europa bereits berühmt. «Auf dem Feld der Literatur» solle eine Stadt der Frauen errichtet werden, schrieb sie. «Dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbaren Boden errichtet werden, wo alle Früchte wachsen und sanfte Flüsse fliessen.» Christine de Pizan konzipierte ihre Schrift als Trostbuch und Lexikon, als literarischen Zufluchtsort «für alle edlen und tüchtigen Frauen».
De Pizan war eine Meisterin der Umdeutungen. Schon im ersten Satz stellt sie das kulturelle Gedächtnis ihrer Zeit auf den Kopf: «Als ich eines Tages in meiner Studierstube sass, so wie ich es gewohnt war und es meinem Lebensrhythmus entsprach, umgeben von vielen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten (. . .)», so porträtiert sich die Ich-Erzählerin als weibliche Gelehrte, als gut vernetzte Schriftstellerin. Ein Bild, das man zuvor nur von Männern kannte.
In essayartigen Passagen nimmt die Ich-Erzählerin die frauenfeindliche Ideologie ihrer Zeitgenossen auseinander und ruft ihre Leserschaft dazu auf, sich nicht auf das Urteil anderer zu verlassen. Bei ihr gilt es selbst zu denken: «Nimm die Spitzhacke Deines Verstandes, grabe tief», schreibt sie.
Auch an Humor fehlt es de Pizan nicht. Hier und da zitiert sie ihre eigenen Bücher, dann wieder stellt sich die Ich-Erzählerin absichtlich naiv und unsicher, um sich im Gespräch mit den drei Tugenden Frau Vernunft, Frau Rechtschaffenheit und Frau Gerechtigkeit eines Besseren zu belehren. Und um ihre eigene Überzeugung umso stärker herauszupolieren. Denn: «Platte Unwissenheit entschuldigt überhaupt nichts.»
In anderen Passagen stellt de Pizan spektakuläre Frauenfiguren vor und berichtet über deren Leben und Werk. Akribisch sammelte sie Wissen über Herrscherinnen, Erfinderinnen, Künstlerinnen und Märtyrerinnen. Frauen, die sich über konventionelle Rollenanforderungen ihrer Zeit hinweggesetzt hatten. «Sie alle sind Bausteine für ein grosses, die Zeiten überdauerndes Gedächtniswerk in Form einer mittelalterlichen Stadt», sagt Zimmermann.
Lange in Vergessenheit
Da «das Buch von der Stadt der Frauen» nicht in den Druck überführt worden war, geriet es bereits im 16. Jahrhundert zunehmend in Vergessenheit. Erst in den 1970er Jahren wurde die mittelalterliche Handschrift in Amerika und Westdeutschland wiederentdeckt und übersetzt. Im letzten Jahr erschien neben der deutschen auch eine polnische Übersetzung. Und in Frankreich wird darüber diskutiert, das Werk in die renommierte «Bibliothèque de la Pléiade» aufzunehmen, eine Reihe des Gallimard-Verlages, in der Klassiker der Weltliteratur erscheinen. Allerhöchste Zeit wäre es.
Nach der Veröffentlichung des bis heute berühmtesten ihrer Bücher verfasste de Pizan noch das «Buch über den Frieden» und ein Buch über das Waffenhandwerk. Über ihr Lebensende ist wenig bekannt. Vermutlich wohnte sie zurückgezogen bei ihrer Tochter in einem Kloster. Dort meldete sie sich kurz vor ihrem Tod um 1429 mit einem letzten und wieder ungeheuerlich mutigen Text zu Wort: einem hymnischen Gedicht auf ihre Zeitgenossin Jeanne d’Arc, die nur zwei Jahre später auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. Herausgegeben und aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Margarete Zimmermann. Aviva 2023. 376 S., Fr. 38.90.