Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Think-Tanks Horizon Center, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Nahostkonflikt. Welche Szenarien sieht er für die Zeit nach dem Gaza-Krieg?
Herr Dalalsha, das Hauptziel Israels in diesem Krieg ist, die Hamas zu zerstören. Kann dies gelingen?
Meiner Meinung nach ist das kein realistisches Kriegsziel. Die Hamas existiert in verschiedenen Formen: als Regierungspartei in Gaza, als bewaffnete Kriegspartei und als politische Organisation. Die Regierungsstrukturen kann Israel zerstören, mit Bombardierungen, Belagerung und Abschottung. Die Hamas wird in Gaza künftig nicht mehr regieren. Den militärischen Flügel auszuschalten, ist schon schwieriger. Die Israeli haben diesen zwar stark geschwächt, sie werden aber nicht alle 40 000 Kämpfer töten können. Überbleibsel des militärischen Flügels werden in der Nachkriegszeit für Unruhe sorgen, im besten Fall aber kein grösseres Sicherheitsrisiko mehr darstellen. Die politische Organisation bleibt die grösste Herausforderung. Sie ist heute stärker denn je.
Wie ist das möglich? Mit ihrem grausamen Angriff am 7. Oktober hat die Hamas einen Krieg begonnen, der für die palästinensische Bevölkerung verheerend ist. Wieso machen die Palästinenser sie nicht für das Elend im Gazastreifen mitverantwortlich?
Die traurige Realität ist, dass Menschen in Situationen grosser Not nicht kompromissbereiter werden, sondern radikaler. Es gibt im Gazastreifen durchaus Kritik am Vorgehen der Hamas, aber mit dem Krieg wachsen auch der Hass und die Rachegefühle, und davon profitieren Extremisten. Und die Hamas ist ja auch im Westjordanland, in Jordanien, in der Türkei aktiv. Überall, wo Palästinenser im Exil leben, hat sie Anhänger. Vor allem ausserhalb des Gazastreifens hat ihre Popularität zugenommen.
Wieso war von palästinensischer Seite keine Kritik nach dem Massaker des 7. Oktober zu hören? Viele haben sogar gejubelt.
Sie müssen sehen, die Lage war schon vorher dramatisch für viele Palästinenser. Vor allem im Westjordanland sind die Palästinenser seit zwei Jahren unter enormem Druck. Siedlungen werden erweitert, Palästinenser vertrieben. Hunderte von Palästinensern wurden getötet oder ohne ein faires Verfahren inhaftiert. Einige israelische Minister plädieren heute offen dafür, alle Palästinenser zu vertreiben. Die Palästinenser haben am 7. Oktober gejubelt, weil sich die Hamas dem allmächtigen Feind Israel entgegengesetzt hat, nicht weil sie Zivilisten entführt und getötet hat. Das Hauptproblem ist, dass es am 6. Oktober keine Alternative zur Hamas gab. Es gab seit Jahren keinen Friedensprozess mehr, keine Verhandlungen, nichts. Ich bin überzeugt: Wenn am 6. Oktober Frieden geherrscht hätte und die Hamas diesen Frieden zerstört hätte, dann hätten sich die Palästinenser gegen sie gestellt.
Wenn Israel die Hamas besiegen will, muss sie also Hand zu einer Alternative bieten?
Ja, wir brauchen eine politische Lösung, einen Friedensplan, den die Menschen auf beiden Seiten akzeptieren können. Mit Gewalt schafft man keine Perspektiven.
In Israel scheint derzeit aber niemand mehr an eine politische Lösung zu glauben?
Nein, Israel plant einen längeren Krieg. Frieden wird es unter der Hardliner-Regierung von Benjamin Netanyahu nicht geben. Ein solcher wäre höchstens mittelfristig vorstellbar, unter einer gemässigteren Koalition. Wenn es eine glaubwürdige Untersuchung zu den israelischen Versäumnissen vor dem Hamas-Überfall geben würde, könnte das zu einem Machtwechsel führen. Doch Netanyahu wird so lange wie möglich Krieg führen, um andere politische und juristische Probleme in den Hintergrund zu drängen.
Was wird nach dem Krieg mit Gaza passieren? Einige fordern eine längerfristige Besetzung durch Israel, andere eine internationale Überwachung, wieder andere die Machtübernahme durch die Palästinensische Autonomiebehörde.
Prognosen sind schwierig, weil wir nicht wissen, wie lange und mit welcher Intensität dieser Krieg weitergehen wird. Jeder Krieg hat seine eigene Dynamik. Klar ist im Moment nur, dass es noch lange dauern wird, bis über eine Nachkriegsordnung entschieden werden kann.
Wie würde eine zukunftsfähige Lösung für den Gazastreifen in der Theorie denn aussehen?
Erst einmal kann es keine Lösung für Gaza allein geben, es muss eine Übereinkunft für die gesamten palästinensischen Gebiete gefunden werden. Aus meiner Sicht bleibt der einzige Weg eine Form von Zweistaatenlösung. Denn dem Zusammenleben in einem einzigen Staat werden die Israeli nie zustimmen, und die Palästinenser wollen nicht weitere fünfzig Jahre unter einem Besetzungsregime leben. Israel müsste der Schaffung eines palästinensischen Staates grundsätzlich zustimmen. Über dessen Form und Rechtshoheit müsste dann wohl lange verhandelt werden, als Erstes könnte man Palästina aber die Mitgliedschaft in der Uno ermöglichen. Ernsthafte Gespräche können nicht im luftleeren Raum stattfinden, konkrete Schritte sind wichtig.
Die Palästinenser müssten dann aber auch den Staat Israel bedingungslos anerkennen.
Auf jeden Fall. Und auch wir Palästinenser würden neue politische Vertreter brauchen. So unpopulär Netanyahu in Israel heute ist, so umstritten ist auch Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er hat keine demokratische Legitimation. In den palästinensischen Gebieten ist seit siebzehn Jahren nicht mehr gewählt worden.
Wahlen wären also dringend nötig?
Ja, aber jetzt ist nicht der richtige Moment dafür. Menschen werden durch Kriege radikalisiert. Deshalb wäre es gefährlich, heute zu wählen. Nach der Zweiten Intifada wurde sofort gewählt, und die Hamas gewann 2006 mit Leichtigkeit.
Wahlen immer wieder aufzuschieben, aus Angst vor dem Resultat, ist aber auch keine Lösung. Auf palästinensischer Seite fehlt es seit langem an einem glaubwürdigen Gesprächspartner.
Wenn wir unsere Gesellschaft nach dem Krieg wieder auf den demokratischen Weg bringen wollen, brauchen wir Zeit. Wir müssen den Wählern echte Optionen bieten. Im Westjordanland, wo Palästinenser heute grundlos zusammengeschlagen und erschossen werden, würde die Mehrheit heute Hamas wählen. Sie würden sich wie 2006 entscheiden, weil es keine Alternative gibt. Nur Rache. Gewalt. Kämpfen.
Aber was wäre denn eine Alternative? Seit Jahren ist keine in Sicht.
Meiner Meinung nach brauchen wir eine Technokratenregierung. Es gibt viele fähige Leute in Parteien, NGO, Think-Tanks, akademischen Kreisen. Wir leben in einer Autokratie, das bedeutet aber nicht, dass es keine besseren Führungsfiguren gäbe. Wir brauchen eine unabhängige Übergangsregierung, nicht die Hamas, nicht die Fatah, nicht die PLO. Sie könnte in einer Abkühlungsperiode den Boden für Neuwahlen bereiten, die internationale Hilfe und den Wiederaufbau im Gazastreifen koordinieren und neue rechtsstaatliche Mechanismen schaffen. Wir brauchen innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde radikale Reformen, um Meinungsäusserungsfreiheit und Demokratie zurückzubringen.
Ist eine Übergangsregierung ohne Fatah und Hamas aber überhaupt vorstellbar?
Nach dem 7. Oktober können wir keine Hamas-Leute mehr in eine Regierung einbinden. Wir brauchen finanzielle und politische Unterstützung der USA und der Europäer, und die werden keine Extremisten mehr akzeptieren. Wir sollten aber nicht nur die Hamas, sondern auch die Fatah fernhalten und nur unabhängige Technokraten akzeptieren. Wenn dann später einmal gewählt wird, haben die Leute die Wahl zwischen drei Modellen: einem Experten-Modell, einem Hamas-Modell und einem Fatah-Modell.
Eine solche Regierung wäre aber auch auf die Unterstützung Israels angewiesen, oder?
Ja, die Israeli müssten Gespräche mit den Palästinensern aufnehmen. Ohne Aussicht auf eine politische Lösung haben gemässigtere Kräfte keine überzeugenden Argumente. Der grösste Fehler von Netanyahu war, dass er die Hamas unterstützte, um die Autonomiebehörde zu schwächen und die Entstehung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Israels Regierungschef lehnte Verhandlungen ab und liess die Erweiterung der Siedlungen zu. Damit trug er dazu bei, dass die Autonomiebehörde obsolet wurde. Die Palästinenser sahen sie nicht mehr als legitime Vertreterin, davon profitierte die extremere Hamas.
Die Chancen für Friedensgespräche scheinen jedoch gering.
Ja, ich bin deshalb auch pessimistisch, was die Zukunft angeht. Über Frieden spricht in Israel im Moment niemand. Die Israeli sind traumatisiert durch den Terrorangriff der Hamas. Sie trauen uns nicht mehr. Gleichzeitig werden die Palästinenser durch das Elend im Gazastreifen radikalisiert. Der jüngste Krieg bringt alte Traumas hoch. Die Israeli erinnert der 7. Oktober an den Holocaust. Bei den Palästinensern weckt der Krieg in Gaza Erinnerungen an die Nakba, ihre Vertreibung 1948.
Was müsste geschehen, damit die beiden Seiten aufeinander zugehen?
Es müsste grosser Druck von aussen auf Israel und die Palästinenser ausgeübt werden, sonst wird sich auf beiden Seiten nichts bewegen.
Mit welchen Folgen?
Die Gewalt wird eskalieren. Das ist die Realität des Krieges. Die Menschen wollen Rache. Im israelisch-palästinensischen Konflikt gab es alle zwanzig Jahre einen grösseren Gewaltausbruch. Beim ersten, 1929, existierte Israel noch gar nicht, aber es gab viel jüdische Zuwanderung nach Palästina. 1948 kam dann der Unabhängigkeitskrieg, 1967 der Sechstagekrieg gegen die arabischen Nachbarn. 1987 erhoben sich die Palästinenser in der Ersten Intifada, 2000 in der Zweiten Intifada – und zwanzig Jahre später haben wir nun diesen Krieg. Das ist mit den Generationen zu erklären. Die meisten Menschen, die Kriege erlebt haben, wollen nicht mehr kämpfen. Die jüngere Generation hingegen ist hitzköpfig und provoziert Auseinandersetzungen, das gilt für Israeli wie Palästinenser. Und wenn wir keinen politischen Prozess in Gang setzen, kommt der nächste Konflikt mit Sicherheit.
Wird der Nahostkonflikt somit nie enden?
Zumindest nicht sehr bald. Das grösste Problem ist, dass wir keine Führungsfiguren mit einer Vision mehr haben. Nicht in Israel und nicht auf palästinensischer Seite. Es geht den Politikern nur darum, die eigene Macht abzusichern, nicht um eine bessere Zukunft für das eigene Volk. Früher gab es Führungsfiguren auf israelischer Seite, wie Itzhak Rabin oder Shimon Peres, die politische Lösungen suchten. Rabin wurde getötet, Peres abgewählt.
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit diesem Konflikt. Was motiviert Sie noch dazu?
Ich bin überzeugt, dass ein politischer Prozess der einzige Ausweg ist. Momentan driften wir immer weiter auseinander und werden auf beiden Seiten verrückt. Ich scherze manchmal darüber, dass Israeli und Palästinenser psychiatrische Hilfe brauchen würden. Aber so ist es. Heute mehr denn je! Die Palästinenser müssten wieder lernen, die Israeli als Menschen wahrzunehmen, und umgekehrt. Wenn die Israeli sehen, dass Tausende von Frauen und Kindern im Gazastreifen bei Bombardements getötet werden, denken sie, die hätten es verdient, weil sie alle Terroristen seien. Für die Palästinenser hingegen sind die Israeli Unterdrücker und verdienen deshalb kein Mitleid für den Überfall vom 7. Oktober. Wir sehen das Menschliche aneinander nicht mehr, so ernst ist die Lage.