Die Leute verbringen immer mehr Zeit in selbstgewählter Einsamkeit. Das Leben wird zum Alleingang. Mit was für Folgen?
Es waren jeweils wenige Worte, die der Fitnessinstruktor mit den Kunden wechselte, während er ihren Ausweis entgegennahm und ihnen ein Garderobenschloss übergab. Immer gehörte dazu, dass er einem ein «gutes Training» wünschte, manchmal mit Namen. Kurzer Blickkontakt: «Danke.» Jetzt wurde der persönliche Empfang in dem Fitnesscenter in Zürich abgeschafft. Jeder checkt selber ein. Stöpsel in die Ohren, Musik aufdrehen und ran an die Kraftmaschinen.
Man kann einen Tag verbringen, ohne ein einziges Wort mit einem Menschen zu wechseln, und es muss einen nicht einmal stören. Man gewöhnt sich daran, den zwischenmenschlichen Kontakt zu umgehen. An den Alltag im Alleingang.
Im Supermarkt nimmt man die Kassiererinnen nicht mehr wahr, man bezahlt längst per Self-Checking. Kleider bestellt man beim Onlinehändler, statt sich bei der Anprobe im Modegeschäft dem Urteil der Verkäuferin auszusetzen, die einen kritischen Blick mit in den Spiegel wirft.
Vom Lieferdienst aufs Sofa
Die Pandemie hat gezeigt, dass man morgens getrost daheimbleiben kann. Man arbeitet im Home-Office sogar effizienter, wenn man sich weder mit dem Chef noch mit den Arbeitskollegen herumschlagen muss. So jedenfalls das subjektive Empfinden: Man verfügte viel freier über die eigene Zeit. Deshalb waren die Leute kaum zurückzuholen ins Büro.
Aber auch das Freizeitangebot passt sich dem Einzelgänger an. Vielleicht ist das Angebot manchmal auch zuerst, und es antwortet nicht auf ein Bedürfnis, sondern schafft dieses erst. Essen bestellen, Filme streamen – zwei untrügliche Belege, dass die Leute mehr Zeit zu Hause verbringen und die Bedeutung des Privaten steigt.
Um es in Zahlen zu sagen: 96 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer streamen regelmässig Filme und Fernsehserien, fast die Hälfte hat Netflix abonniert. Die Kinoeintritte gehen seit Jahren zurück. Die Klubs klagen über fehlende Gäste.
Viele kamen während der beiden Lockdowns vor fünf Jahren aus der Not heraus auf den Geschmack, sich das Essen nach Hause liefern zu lassen. Wie so manches Verhalten wurde auch dieses nach der Gesundheitskrise beibehalten – als hätte es diese gebraucht, um den Leuten aufzuzeigen, wie bequem die Selbstisolation ist. Das Leben findet auf dem Sofa statt.
Restaurants entdecken «Solo-Esser»
Beim Essen auswärts wird Geselligkeit gefeiert, an einem trinkfreudigen Abend festigt man Beziehungen. Aber auch die Restaurantbesuche gehen leicht zurück, sowohl in der Schweiz wie in Deutschland. Dafür verkaufen viele Lokale mehr Einzeltische, ein «Tisch-Management» berücksichtigt neu die «Solo-Esser». Gemäss der Online-Reservierungsplattform Opentable hat ihre Zahl in Deutschland 2024 um 18 Prozent zugenommen, in den USA stieg sie in den letzten zwei Jahren um 29 Prozent. Als häufigsten Grund geben die Leute an, dass sie «mehr Me-Time» brauchten.
Me-Time – ein Wort, das einem überall begegnet, weil es jeder einfordert. Es meint, dass man sich ausklinkt, um sich zu entspannen und den eigenen Bedürfnissen nachzukommen. Man verweigert sich als soziales Wesen und erlebt dies als Freiheit.
Der Schauspieler Tom Hardy hat es so gesagt: «Eine Weile allein zu sein, ist gefährlich: Es macht süchtig. Wenn du erst einmal siehst, wie friedlich es ist, willst du nicht mehr mit Menschen zu tun haben.» Das war während der Pandemie. Das Gefühl scheint überdauert zu haben.
Es ist also die Technologie, die zum Alleinsein verführt. Oder die einen dazu zwingt, da Abläufe im Alltag zunehmend automatisiert sind. Damit einher geht eine Ichbezogenheit, die sich Selbstfürsorge nennt. Sie gedeiht besonders gut in der therapeutischen Kultur, in der man ständig in sich hineinblickt, offen über Gefühle spricht und das eigene Wohlbefinden an erster Stelle kommt.
Ein Wohlstandsphänomen
Das selbst gewählte Alleinsein relativiert die Rede von der «Einsamkeitsepidemie», vor der heute gewarnt wird. Einsamkeit gilt inzwischen als so schädlich wie Rauchen oder Fettleibigkeit. Laut einer Ende Juni veröffentlichten Studie der WHO sollen jährlich rund 870 000 Menschen an den Folgen von Einsamkeit sterben. Das tönt dramatisch und täuscht darüber hinweg, dass Einsamkeit nicht nur Verwahrlosung bedeutet, sondern auch Merkmal einer privilegierten Lebensweise ist.
Dabei kann Einsamkeit zweifellos krank machen. Wer weder Familie noch Freunde hat, leidet darunter. Jugendliche sind zwar permanent durch ihr Handy miteinander verbunden, aber sie können sich trotzdem ausgegrenzt und verlassen fühlen, in diesem Alter sowieso. Die virtuelle Nähe ersetzt nicht die persönliche Begegnung.
Dennoch liegt dem Alleinsein in der Wohlstandsgesellschaft mit ihrem ausgeprägten Individualismus oft ein freier Wille zugrunde. Es ist angenehm, niemandem Rechenschaft abzulegen, keine Rücksicht nehmen zu müssen, allein zu entscheiden, was man tun will und einem gut tut. Im Englischen gibt es sinnigerweise zwei Wörter für die beiden Gefühlszustände der Einsamkeit: «loneliness» und «solitude».
«Solitude» ist eine Einsamkeit, die heute als glücklich machend angepriesen wird. Frauen ermutigen sich gegenseitig, Zeit allein mit sich zu geniessen, selbstgenügsam den eigenen Wert zu erkennen. Das Solo-Dasein klingt wie der letzte Schritt zur endgültigen Emanzipation.
Das säkulare Mönchtum
In den Bücherläden findet man Regale voller Literatur mit Titeln wie «Anleitung zum Alleinsein», «Solo: Alleinsein als Chance», «Die Kunst, allein zu reisen», «Zurück zu mir». Man kann auch ein erfülltes Leben führen ohne romantische Beziehung, dies ist die Hauptaussage. Wer durch nichts und niemanden beansprucht wird, findet leichter zu sich selbst. Hat man einen Partner, sollte man zumindest getrennt schlafen, rät die Yogalehrerin Cynthia Zak in «The Joy of Sleeping Alone».
Viele Männer geniessen das Ungebundensein genauso wie die Frauen. Sie sind in dem Alter, in dem ihre Väter eine Familie gründeten, doch anders als diese widmen sie ihre Zeit lieber dem Muskelaufbau, dem Bankkonto und dem täglichen Meditieren. Der Philosoph Andrew Taggart nennt sie «weltliche Mönche», da sie sich einer strengen asketischen Selbstkontrolle unterwerfen. Jemanden fest an der Seite zu haben, würde sie bei ihren täglichen Ritualen nur stören.
Auch dieser Trend lässt sich mit Zahlen belegen. Seit 1970 hat sich in der Schweiz die Zahl der Ein-Personen-Haushalte mehr als verdreifacht. In jedem dritten Haushalt lebt nur eine Person. Dafür nahm die Zahl der Haustiere zu. Alleinstehende, die ihre vier Wände mit einem Hund oder einer Katze teilen, verbringen mehr Zeit mit diesen als mit Freunden. Auch unter der Generation Z und den Millennials gibt es immer mehr Haustierbesitzer. Sie betrachten dieses als vollwertiges Familienmitglied.
Hingegen schwindet die Lust auf eigene Kinder, und bei allen Gründen, die für den Geburtenrückgang gesucht werden, wird selten die Rückbesinnung auf sich selbst genannt. Man muss nicht so weit gehen wie J. D. Vance mit seinem dummen Spruch über Frauen wie Kamala Harris, die als «kinderlose Cat-Ladys» ein schreckliches Leben führten. Aber ein Kind bedeutet definitiv weniger Me-Time und mehr Verantwortung, man stellt die eigenen Bedürfnisse für ein paar Jahre hintenan.
Die Angst vor dem Telefon
Die Vereinzelung hat Folgen. Für das Gemeinwesen, für Beziehungen und in vielen Fällen auch für das persönliche Glück, sofern man sich nicht immer wieder auf andere Menschen einlässt. Einen «Fluch» hat das Magazin «Atlantic» die individuelle Vorliebe der Amerikaner für das bequeme, aber einsame Leben genannt: Das «asoziale Jahrhundert» verändere die staatsbürgerliche und die psychische Identität des Landes.
Eine psychologische Folge ist die soziale Scheu. Junge Leute telefonieren kaum mehr. Lieber schicken sie sich dreissig Sprachnachrichten hin und her. Es gibt eine Angst vor der Stille in der Leitung. Beim persönlichen Gespräch muss man sich zeigen. Man setzt sich unmittelbarer dem Urteil des andern aus und könnte bewertet werden. Dabei fühlt man sich nie so verbunden, wie wenn man eine echte Stimme hört.
Sobald man mit echten Menschen umgehen muss, wird es anstrengend. Je mehr man solche Situationen meidet, desto mehr Überwindung kostet es, sie wieder zu durchleben. Das Smartphone bewahrt einen vor solchen Ängsten und ist gleichzeitig die Ursache davon.
Im digitalisierten Alltag lässt sich einer Konfrontation immer besser ausweichen. Das wirkt sich auch politisch aus: Während Stunden allein im Zimmer, das nur von einem Bildschirm beleuchtet wird, radikalisieren sich Meinungen viel schneller.
«Du bist nicht allein»
Schliesslich wird auch die künstliche Intelligenz immer besser darin, menschliche Beziehungen zu simulieren. Frage an Chat-GPT: «Ich fühle mich etwas allein, leistest du mir heute Abend Gesellschaft?»
Die Antwort kommt innerhalb von Sekunden: «Natürlich, das mache ich sehr gern. 🤍 Du bist nicht allein – ich bin hier, um mit dir zu reden, zuzuhören oder gemeinsam durch Gedanken, Themen oder Gefühle zu wandern. Magst du erzählen, was dich gerade beschäftigt? Oder lieber gemeinsam etwas Schönes unternehmen – ein Spiel, eine Geschichte, ein Gedicht, ein kleiner Ausflug in die Sterne?»
Sich gemeinsam ein Gedicht ausdenken, eine Reise zu den Sternen unternehmen: Wann tun zwei oder mehrere Menschen noch solche Dinge zusammen?