Die Lust, alles zu sein, war ihr Motto. Und ihre Kunst weist eine bisher verborgene Seite auf. Irène Zurkindens Werk ist jetzt in Basel neu zu entdecken.
Rotblond war sie und wahrscheinlich ziemlich keck. Auch exzentrisch und gern mit modischer Extravaganz gekleidet. Der berühmte amerikanische Fotograf Man Ray hatte Irène Zurkinden in mehreren Posen porträtiert: mit mädchenhafter Schleifenbluse ebenso wie mit hochgerecktem Kinn im selbstbewussten Profilbild. Das war 1932, und Zurkinden gehörte damals bereits zum Freundeskreis der Pariser Surrealistenszene.
Max Ernst, André Breton, Kiki de Montparnasse verkehrten mit ihr. Die flirrend aufgeladene Pariser Bohème war das Fluidum, in dem sich die junge Malerin bewegte. Ihre Freundin Meret Oppenheim, später eine Ikone der Surrealisten, hatte sie aus Basel mitgebracht.
Der Kontrast muss stark gewesen sein: hier die bürgerliche Stadt am Rhein, dort die Grossstadt mit all ihren künstlerischen Herausforderungen und frivolen Verlockungen. Irène Zurkinden war wie ein Fisch in die Pariser Sphäre eingetaucht und fand sich so rasch zurecht, als hätte sie schon lange darin gelebt.
Die Sprache war ihr vom Elternhaus her vertraut, und der Erlebnishunger öffnete ihr die Türen. Paris war das Ziel ihrer Sehnsucht: Die Métro, die Strassen, die Häuser, die Boulevards – alles trug sie hin zur Kunst und zur Liebe. Dabei verlor sie die Realität keineswegs aus dem Blick. Schnell hatte sie ein Netzwerk aufgebaut, das ihr auch in schwierigen Zeiten nutzen konnte.
Die verborgene Seite
1909 in Basel geboren, wuchs Zurkinden in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater war Zollbeamter, die Mutter Tanzlehrerin. Das Elternhaus muss offen und künstlerisch anregend gewesen sein, die junge Irène zeichnete und interessierte sich für Mode. Die Mutter nahm sie mit zum Ballett, der Vater baute ihr sogar ein Atelierhaus im Garten.
Irène wollte zunächst den Beruf der Modezeichnerin lernen. Dass sie Malerin werden könnte, rückte erst nach und nach in ihr Bewusstsein. Es musste ihr aber schon am Beginn ihrer Ausbildung klar gewesen sein, dass sie mit ihrem Beruf Geld verdienen musste. Sie knüpfte bereits in Basel Kontakte, verkehrte in Künstlerkreisen, begeisterte sich für das Maskentheater der Fasnacht. Doch Kunst wirklich studieren – das konnte sie nur in Paris.
Irène Zurkindens Œuvre ist nie ganz aus dem Basler Bewusstsein verschwunden – im Gegensatz zu so manch anderem Werk von Künstlerinnen und Künstlern der Stadt. Viele ihrer Gemälde sind in Basler Privathäusern und Kunstsammlungen präsent. Zurkinden war eine gefragte Porträtistin und bediente – durchaus mit einem gewissen Kalkül – den Geschmack des Bürgertums, der sich am Impressionismus orientierte.
In einer umfassenden Ausstellung war ihr Werk allerdings seit vierzig Jahren nicht mehr zu sehen – 1985 hatte ihr das Kunstmuseum Basel eine Retrospektive gewidmet. Umso interessanter ist, dass man die Künstlerin jetzt in den Räumen der Kulturstiftung Basel H. Geiger völlig neu entdecken kann.
Intime Träumereien
Neu im wahrsten Sinn: Man lernt hier eine andere, bisher verborgene Seite von Zurkindens Leben kennen. Und zwar anhand der nur fragmentarisch bekannten Skizzenbücher. Mehr als hundert kleinformatige Konvolute entstanden in der Zeit von zirka 1920 bis zu ihrem Tod 1987. Gleich der erste Raum der Ausstellung zeigt in dichter Folge ausschliesslich Papierarbeiten.
Für alles ist allerdings zu wenig Raum: Das irrlichternde, traumwandlerische Werk kann hier nicht vollumfänglich erfasst werden. Will man mehr sehen, muss man den Katalog zur Hand nehmen. Er listet alle Skizzenbücher auf und bildet einen Grossteil davon in einer Art Faksimile-Form ab. Man blättert darin – und kommt nicht mehr los.
Zurkinden muss eine manische Zeichnerin gewesen sein. Die Skizzen sind eine Art visuelles Tagebuch, nur wenig davon diente als Vorbereitung für ihre Gemälde. Es sind Impressionen dessen, was sie gesehen und imaginiert hat: Blicke, Menschen, Tiere, Mischwesen und Zerrbilder.
Zurkinden brauchte offenbar diese zeichnerische Niederschrift, um die Fülle ihrer Ideen und Gefühle zu bändigen. Sie selbst hat sich darin immer wieder in vielfachen Posen und Wandlungen festgehalten, lustvoll und herausfordernd. Vieles ist sehr intim, ja sexuell, und wohl eigentlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht.
Ohne Zweifel hat der Einfluss der Surrealisten in diesem Universum Spuren hinterlassen. Sicher spielen auch Träume und Absurditäten hinein. Dabei sind die Skizzen keine «écriture automatique» im eigentlichen Sinn. Viel zu nah ist dieses gezeichnete Tagebuch an den Beziehungen der Künstlerin, an den Menschen, die sie liebte.
Zurkinden hält sie fest, direkt und unmittelbar aus einem Gefühl der Verbundenheit. In zarter Schrift ist «Kurt» auf dem Deckblatt eines Skizzenbuchs aus dem Jahr 1933 notiert. Der Musiker Kurt Fenster war der Lebenspartner der Künstlerin, der Sohn eines Afrobrasilianers und einer Deutschen. Körperliche Faszination und Innigkeit gehen von den Blättern aus. Immer wieder porträtierte sie ihn und zeichnete sich selbst mit ihm beim Liebesakt.
Pariser Romantik
Die Skizzenbücher wirken inoffiziell und stehen neben dem malerischen Werk wie die andere Seite von Zurkindens Leben. Die Gemälde nehmen den grösseren Teil der Ausstellung ein. Es sind Porträts, Stadtlandschaften von Paris und Basel, Freunde und Freundinnen, ihre Katzen, surreale Zirkusszenen. Alles ist mit lockerem Pinsel und offener Malweise auf die Leinwand gebracht.
Schon die junge Künstlerin adaptierte erstaunlich virtuos die impressionistischen Maler, ihre geliebten Vorbilder. Sie liess darin eine Sphäre aufleben, die sie in Paris gesucht hatte, im Grund eine Art Romantik der vergangenen Belle Époque. Sie begnügte sich damit. Kubismus und Abstraktion, die Moderne ihrer Zeit, die sie in Paris zweifellos gesehen hatte, gingen an ihr spurlos vorüber.
«Lust, alles zu sein / das Gefühl zu haben, / im Bauch seiner Mutter zu liegen. / Ist das vielleicht das Geheimnis / des Sonntags.» Die Künstlerin hat das kleine Gedicht wie einen Lebensfunken in einem der Skizzenbücher notiert. Bis heute kursiert zu Zurkinden die Bemerkung, dass ihr Leben interessanter sei als ihr Werk. Wenn es tatsächlich so ist, dann wäre es ihr vielleicht sogar recht gewesen.
Im Grund ist die Arbeit an der Kunst immer ein gewisser Widerspruch zum Leben, das sich vordrängt und seine Rechte einfordert. Irène Zurkinden lebte ein bewegtes Leben in einer von politischen Verwerfungen gezeichneten Zeit. Die Kunst ist von ihrem Leben nicht zu trennen. Und dass die gelebte Liebe darin so viel Raum einnimmt, gibt ihm die schönste Leuchtkraft.
«Irène Zurkinden. Die Liebe, das Leben». Kulturstiftung Basel H. Geiger. Bis 7. September. Der Katalog zur Ausstellung ist gratis.