Die Vereinigten Arabischen Emirate fliegen regelmässig verletzte Kinder und Jugendliche aus dem Krieg im Gazastreifen zur Behandlung an den Golf. Für die Passagiere bedeutet das die Rettung. Doch die Mission ist für die Emirate nicht nur selbstlos.
Der Flugplatz von al-Arish auf dem ägyptischen Sinai besteht aus einem Hangar und einer Piste. Dahinter beginnt die Wüste. Es ist Nacht. In einer fahl erleuchteten Halle sitzen Menschen mit Koffern, unter ihnen der verwundete 17-jährige Ahmad al-Nimr und seine Mutter Najla Akram. Die beiden kommen aus Gaza. Najla lächelt, als sie angesprochen wird: «Wir haben so lange gewartet», sagt die 40-Jährige. «Jetzt kommen wir endlich raus.»
Auf dem Rollfeld steht eine Boeing 777 der emiratischen Fluggesellschaft Etihad. Normalerweise fliegen damit Touristen und Geschäftsleute von Abu Dhabi aus in die Welt. Heute ist die Maschine jedoch in einer anderen Mission unterwegs: Sie wird verletzte palästinensische Kinder und Erwachsene aus dem Krieg im Gazastreifen in die reiche Stadt am Golf transportieren. Das leuchtende Flugzeug wirkt wie ein rettendes Schiff inmitten einer finsteren, stürmischen See.
Nur wer Glück hat, entkommt der Hölle
Insgesamt 1000 verwundete Kinder und ebenso viele krebskranke Erwachsene aus Gaza wollen die Vereinigten Arabischen Emirate an den Golf ausfliegen und dort behandeln lassen. Seit Oktober haben die Herrscher von Abu Dhabi bereits 425 Patienten aus dem Kampfgebiet geholt. Heute kommen 65 weitere und deren Begleitpersonen hinzu – unter ihnen auch Najla Akram und ihr Sohn Ahmad.
Die Passagiere kauern auf den Stuhlreihen im Hangar. Sie frieren in der kalten Wüstennacht. Al-Arish ist ein trister Ort. Der Flughafen gehört zu einem vergessenen Provinznest im äussersten Nordosten Ägyptens. Der Gazastreifen liegt nur eine knappe Autostunde entfernt. Aber weil Ägypten fürchtet, dass Israel die rund 2 Millionen Einwohner Gazas in die unwirtlichen Weiten des Sinai vertreiben will, haben Kairos Generäle das Grenzland in eine militärische Sperrzone verwandelt.
An der Strasse nach Rafah, wo sich der Übergang zu Gaza befindet, stehen Panzerwagen der Armee. Die Grenze selbst ist hoch gesichert, mit Mauern, Stacheldrahtverhauen und Wachtürmen. Dahinter kann man Reihen von Zelten sehen, in denen Tausende von Flüchtlingen aus dem ganzen Gazastreifen untergekommen sind. Das improvisierte Lager ist eine Sackgasse. Nur wer über einen ausländischen Pass verfügt oder auf einer Evakuierungsliste steht, kann der Hölle entkommen.
«So viele schwere Verletzungen habe ich noch nie gesehen»
In al-Arish ist die Maschine nun zum Einsteigen bereit. Eine Karawane von Versehrten marschiert auf sie zu. Manche Kinder sind so schwer verwundet, dass sie in Krankenwagen hergebracht wurden. Vielen fehlt ein Bein oder ein Arm, andere haben Verbrennungen. «Es ist entsetzlich», sagt Yakub Alhammadi, ein bärtiger Arzt aus Abu Dhabi, der sich um die Patienten kümmert. «Ich habe viele Kriege erlebt. Aber so viele schwere Verletzungen auf einmal habe ich noch nie gesehen.»
Auch Ahmad hat schlecht verheilte Wunden, an den Beinen und an der Hüfte. Seine Nase ist notdürftig geflickt. Er war Ende November verletzt worden, als eine Bombe auf eine Schule in seiner Nachbarschaft fiel. Seine Familie habe dort zu Beginn des Krieges Zuflucht gesucht, erzählt er. «Wir dachten uns, das wäre sicherer. Dann kam der Angriff, bei dem viele Menschen getötet wurden.» Ahmads Familie stammt aus dem Flüchtlingslager al-Shati, im Norden Gazas. Er arbeitete dort vor dem Krieg als Verkäufer in einem kleinen Kiosk.
Von dem Viertel steht inzwischen nichts mehr. «Unser Haus ist komplett zerstört», sagt die Mutter Najla Akram. Die Familie sei deshalb nach Süden geflohen und lebe seither in Rafah, nahe der ägyptischen Grenze. Sie würden dort zu elft in einem Zelt schlafen, es fehle an allem: «Meine Schwester kocht auf offenem Feuer. Es gibt kaum mehr etwas zu essen und oft keinen Strom.» Hilfe komme viel zu selten an. «Wir wissen nicht, wo die Hilfsgüter bleiben», sagt Akram. «Uns erreichen sie jedenfalls nicht.»
Wie eine Lotterie über Leben und Tod
Ähnlich hoffnungslos sei die Lage auch in den Krankenhäusern in Gaza gewesen. Sie habe ihren verwundeten Sohn extra ins Shahada-al-Aksa-Spital gebracht, erzählt Akram. «Es war damals noch nicht in den Nachrichten», sagt sie über die inzwischen umkämpfte Klinik. «Ich habe deshalb gehofft, dass es da ein bisschen sicherer ist.» Aber auch dort habe Mangel geherrscht. «Es fehlte an Medikamenten, überall war Blut, die Leute litten an Infektionskrankheiten.»
Ahmad wurde notdürftig operiert. Vor knapp einem Monat bekam er dann die Erlaubnis zur Ausreise nach Ägypten. Seither wartet er gemeinsam mit seiner Mutter auf den Weitertransport nach Abu Dhabi. Doch nur wenige Kinder und Jugendliche aus Gaza schaffen das. Angesichts der inzwischen fast 27 000 Toten und Zehntausende Verletzten im Küstenstreifen ist das Hilfsprogramm der Emirate bloss ein Tropfen auf den heissen Stein. Oft entscheiden Zufälle über Leben und Tod, wie bei einer finsteren Lotterie.
Natürlich versuchten sie, die Spitäler in Gaza zu kontaktieren und abzuklären, wer für eine Evakuierung infrage käme, sagt Maha Barakat, stellvertretende Staatsministerin im emiratischen Aussenministerium, die den Flug an diesem Tag Ende Januar begleitet. Aber viele Patienten seien nicht transportfähig. «Viele Spitäler sind wegen der Kämpfe schwer oder gar nicht zu erreichen. Manchmal telefonieren wir auf gut Glück nach Gaza, um Verwundete ausfindig zu machen.»
Selbstlos ist das Engagement nicht
Zudem dürfen die Emirate nur Kinder ausfliegen, die auf ihrer Reise an den Golf von einem engen Verwandten begleitet werden können. Doch viele der jungen Kriegsopfer in Gaza haben fast ihre kompletten Familien verloren. «Diese Kinder können wir leider nicht evakuieren, auch wenn wir es wollten», sagt Barakat. «Würden wir es trotzdem tun, dann käme das laut internationalem Recht Menschenhandel mit Minderjährigen gleich.»
Neben den Evakuierungsflügen betreibt Abu Dhabi auch noch ein eigenes Feldspital im Küstenstreifen und hat im Grenzgebiet eine Entsalzungsanlage für Meerwasser gebaut – alles in Absprache mit Israel. Ganz selbstlos ist das Engagement aber nicht, denn die Emirate stehen unter Druck. Die Stammesföderation hat 2020 ihr Verhältnis zu Israel normalisiert, was vielen Arabern als Verrat gilt. Nun kann sie zeigen, dass ihr die Palästinenser trotz harter Realpolitik nicht egal sind.
Langfristig aufnehmen wollen die Emirate die Palästinenser aber nicht. «Unser Ziel ist es, die Patienten so lange zu versorgen, bis sie wieder geheilt sind und zurückkehren können», sagt Barakat. Entsprechend trifft man auf dem Hinflug von Abu Dhabi nach al-Arish auf vereinzelte Rückkehrer. «Gaza ist meine Heimat, meine Töchter sind dort», sagt die 55-jährige Hilma, die nach der Behandlung ihres Mannes am Golf zurück ins Kriegsgebiet reist. «Ich kann sie nicht alleine lassen.»
Der erste Flug in ihrem Leben
Inzwischen ist die Boeing fertig beladen, Ärzte versorgen die Schwerverletzten. Die Kabine wurde extra mit Liegen ausgerüstet. Ahmad, der auf einem Rollstuhl ins Flugzeug gehievt wurde, kann wenigstens sitzen. Für ihn und seine Mutter ist es – wie für die meisten hier – der erste Flug überhaupt. Entsprechend aufgeregt sind viele. Manche Kinder lachen vor Begeisterung. Ahmad kämpft mit dem Bord-Entertainment-System, Akram wiederum hat Angst: «Ich hoffe, dass das Flugzeug nicht zu sehr wackelt», sagt sie.
Dann donnert die Maschine über die Piste hinweg. Der Sinai verschwindet in der Finsternis. Knapp zweieinhalb Stunden später landen die Verwundeten auf dem Flughafen von Abu Dhabi. Krankenwagen und Busse holen sie ab und bringen sie in Spitäler am Rand der Wüstenstadt. Besuchen darf man sie dort nicht. Ein paar Tage später meldet sich Ahmad per Whatsapp. Es gehe ihm gut, schreibt er. Vor allem aber wünsche er sich ein iPhone. Als wäre er in der Normalität am Golf bereits angekommen.