Die Krimiautorin erlebte per Zufall die iranische Revolution von 1979 mit – es ist nur eines von vielen Abenteuern, auf die sie sich einliess. Heute lebt sie im beschaulichen Val Müstair. Ein Gespräch wie eine Anleitung zum Wagnis.
Wer sich auf ein Gespräch mit Donna Leon einlässt, wähnt sich bald mitten in einer optischen Täuschung. Da sitzt die Frau, die man vom Umschlag ihrer mittlerweile 33 Brunetti-Krimis kennt. Seit 1992 erscheint Jahr für Jahr ein neuer Band über den Commissario aus Venedig.
Zierlich ist Leon und elegant – und 82 Jahre alt. Doch je länger man mit ihr spricht, umso jünger scheint sie zu werden. Spät im Gespräch sagt sie: «Ich bin in meinem Leben kaum je schlecht behandelt worden.» Vielleicht hat sie sich darum eine Unvoreingenommenheit und Neugier den Menschen und Themen gegenüber erhalten, die die meisten irgendwann ablegen. Ratschläge würde Donna Leon niemals erteilen; dennoch hört sich ihre Biografie an wie eine einzige grosse Aufforderung zum Wagnis.
Pyjama-Party in Isfahan
Sie habe in vielen Paradiesen gelebt, sagt Leon. Eines davon war Isfahan. Leon hat englische Literatur studiert und sollte 1976 mit ihrer Doktorarbeit beginnen, als ihr Blick beim Blättern durch die «New York Times» hängenblieb: Eine Firma namens Telemedia suchte Englischlehrer, die Angehörige der iranischen Luftwaffe unterrichteten – in Iran.
Über das Land habe sie eigentlich nur gewusst, dass es einst den magischen Namen «Persien» trug. Aber weil die Lust auf ein Abenteuer grösser war als jene auf eine Universitätskarriere, landete Leon wenige Monate später in Isfahan. Sie selbst fasst ihre vier Jahre dort so zusammen: «Ich hatte einen dummen Job, sehr viel Spass – was absurd ist, weil das Land kurz vor dem Umsturz war – und spielte eigentlich den ganzen Tag Tennis.»
Anders als die Politik, die bald eine nächtliche Ausgangssperre für Ausländer verhängte – der Leon und ihre Expat-Freunde mit ausschweifenden Pyjama-Partys in ihren vielzimmrigen Häusern begegneten –, habe sich die Bevölkerung nie gegen die Amerikaner gewendet. Als sich etwa das Gerücht verbreitete, das Trinkwasser sei vergiftet worden, warnte eine Nachbarin Leon und ihren Mitbewohner und bot ihnen an, ihren privaten Brunnen zu benutzen.
1979 dann ging plötzlich alles sehr schnell. Eines Nachts um 22 Uhr wurde Leon zum Packen aufgefordert: Um Mitternacht würden Busse alle Expats abholen und für die Abreise, von «Evakuierung» sei nie die Rede gewesen, nach Teheran bringen. Dort wurden die Expats in einem einst luxuriösen Hotel untergebracht. Nun waren die Fenster zersplittert, und in den Wänden steckten Schüsse – die Revolution war längst durch die Hauptstadt gefegt.
Die nächste gute Gelegenheit
Eine Tasche mit dem Nötigsten durften die Expats 1979 mitnehmen, drei Koffer konnten zur späteren Abholung bereitgestellt werden. In einen davon packte Leon ihre Doktorarbeit, die sie in Isfahan dann doch fertiggeschrieben hatte.
Die Koffer trafen fünf Monate nach ihrer Besitzerin tatsächlich in den USA ein. Gestohlen worden war nichts. Die Iraner hatten einzig alles Schriftliche beschlagnahmt: Briefe, Bücher – und eine Doktorarbeit über Jane Austen.
Vielleicht hat sie das damals geärgert. Heute sagt Leon, es sei ein grosses Glück gewesen: Man stelle sich nur vor, aus ihr wäre eine Universitätsprofessorin geworden. Lieber malt sie sich aus, wie iranische Zollbeamte mit einem Handbuch für Spionagetechnik versuchten, den Code ihrer Dissertation zu knacken, um an amerikanische Kriegsgeheimnisse zu kommen.
Glücklich zu sein, sagt Leon, sei gewissermassen ihre Grundeinstellung: «Ich könnte wohl gar nicht lernen, unglücklich zu sein.» Leon hadert nicht. Stattdessen ist sie bereit für die nächste gute Gelegenheit.
Unter Kontrolle
Zurück in den USA, reiste Leon erst einmal mit einem Round-the-World-Flugticket von Pan American Airways um die Welt. Dann führte sie die nächste Stellenausschreibung in ein neues Abenteuer: Eine Universität im chinesischen Suzhou suchte eine Dozentin für englische Literatur – das Fehlen des Diploms wog nicht allzu schwer, der amerikanische Pass genügte als Qualitätsbeleg. Leons Biografie ist auch eine kleine Chronik der amerikanischen Vormachtstellung in der Welt. Die Erinnerung an eine Zeit, in der der Westen unschlagbar schien.
Wie allen «ausländischen Experten» wurden Leon in Suzhou ein Haus mit Dienstmädchen, Köchin und Hausmeister sowie zudem zwei Dolmetscherinnen zur Verfügung gestellt. Ersteres Luxus, Letzteres Kontrolle: Die beiden waren Töchter von Mitgliedern der Kommunistischen Partei und dafür da, die Aktivitäten und Gespräche der Ausländerin zu rapportieren.
Erst als Leon lernte, ihren Dolmetscherinnen zu entwischen, waren offenere Gespräche mit ihren chinesischen Kollegen und Studierenden möglich. Für tiefe Freundschaften habe ein knappes Jahr nicht gereicht, sagt Leon. Ehrlichkeit und Nähe sind für Menschen in einer Diktatur in erster Linie ein Risiko.
Ein Anfall von Dolce Vita
Auf dem Tisch in Zürich, zwischen Büchern und Notizblock, stehen frische Erdbeeren. Als Leon danach greift, spricht sie plötzlich auf Italienisch weiter. Ein Anfall von Dolce Vita. Darauf angesprochen, schweigt sie kurz. Sie habe es gar nicht bemerkt, sagt sie dann. Aber ja, klar, Italien sei die Liebe ihres Lebens. Dabei war es, natürlich, Zufall, «ein Witz eigentlich», dass sie überhaupt nach Italien fuhr.
Leon hat keine italienischen Wurzeln, ihr Nachname stammt von ihrem Grossvater aus Südamerika und lautete einst «de León». Nach Italien fuhr sie nur, weil ihre Freundin Anita in Rom Malerei studieren wollte, die Mutter sie aber nicht alleine ziehen lassen wollte. Am Ende blieb Leon, die ohne Sprachkenntnisse oder Studienplatz spontan mitgefahren war, länger in Süditalien als Anita selbst. «So lernte ich Italienisch – mit einem grauenhaften neapolitanischen Dialekt, wie man mir später im Norden sagte.»
Knapp zwei Jahrzehnte später wollte Leon in Venedig eigentlich nur Freunde besuchen. Dann fand sie heraus, dass man auf der nahen amerikanischen Militärbasis zufälligerweise gerade eine Dozentin für englische Literatur suchte. Sie packte die Gelegenheit und fand für einmal nicht nur ein Paradies, sondern eine Heimat. «Ich dachte, dort würde ich vielleicht für immer bleiben.»
Der Überraschungserfolg
Für immer blieb Leon nicht, aber länger als an jedem anderen Ort. Am Ende ging sie, weil zu viele Touristen kamen. Manche hat sie mit ihren Brunetti-Krimis, die allein auf Deutsch millionenfach verkauft wurden, selber angelockt. Der erste Fall war, natürlich, nur eine Fingerübung, gedacht für die Schublade, nicht fürs Bücherregal.
Von Venedig zog Leon weiter in die Schweiz. Sie hatte beim zufälligen Blättern durch die Immobilienangebote in der NZZ ein Haus aus dem 17. Jahrhundert entdeckt. Val Müstair, las sie – und zögerte nicht. Dass Leon überhaupt zu einer NZZ kam, liegt daran, dass sie auch damals nicht zögerte, als ihr Agent in New York ihr zwei Angebote von deutschsprachigen Verlagen zeigte. «Ich hab mich sofort für die Kleinen entschieden», sagt Leon. Der Diogenes-Verlag hat sie gross gemacht.
Heute lebt Leon in Zürich und Val Müstair. Beide nicht Heimat, beide nicht Venedig. Aber zwei weitere Paradieschen auf der leonschen Weltkarte.
Das erste Paradies
Leons allererstes Paradies dürfte ihre Kindheit in New Jersey gewesen sei. Eine Kindheit, geprägt von ausgefallenen Halloweenkostümen – für den Familienhund, nicht für Leon und ihren älteren Bruder –, trockenen Thanksgiving-Truthähnen – die Mutter verstand sich auf Cocktails und Desserts, nicht auf warme Mahlzeiten – und einer Freiheit, die Leon in ihrem Leben immer wieder zu suchen schien.
Über ihre Mutter, die Kette rauchte, den eigenen Kindern beim Schulschwänzen half und ihnen vor allem Spass im Leben wünschte, sagt Leon: «Ich liebte sie, weil sie meine Mutter war. Aber ich mochte sie so wahnsinnig gern, weil sie mich so oft zum Lachen brachte.»
Anstatt Regeln aufzustellen und Erfolge zu fordern, liessen die Eltern ihre beiden Kinder die Welt entdecken und das gute Leben selber definieren. «Dass ich etwa keine eigene Familie wollte, war für meine Eltern nie ein Problem», sagt Leon. Für viele wäre es das in den sechziger und siebziger Jahren durchaus gewesen.
Idyll und Wahnsinn
«Manchmal schäme ich mich fast, zu sagen, dass meine Kindheit einfach nur gut war. Es gibt kein Trauma. Dabei wuchs ich in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft auf.» Als Donna Leon 1942 zur Welt kam, war die Rassentrennung in Amerika noch nicht verboten. Doch im Norden der USA bemerkte das Kind Donna nichts davon, weil New Jersey «oberhalb des Wahnsinns», der Südstaaten also, liegt. Und auch, weil es «in unserer Nachbarschaft oder an unserer Schule gar keine schwarzen Menschen gab».
Doch einmal im Jahr packte die Mutter Mann und Kinder ins Auto und fuhr quer durchs Land nach Florida, wo ihre liebste Schwester wohnte. Während der Pausen unterwegs sahen die Kinder Trinkbrunnen, Restaurants oder Toiletten für weisse und solche für schwarze Menschen. «Als Kind macht dich das nicht wütend, es beschämt dich auch nicht – es verwirrt», sagt Leon. «Ich verstand nicht, warum ich anstehen musste, um die eine Toilette zu benutzen, wenn niemand auf der anderen war.»
Ein Schritt nach links
Erst als junge Englischlehrerin wurde Leon erneut mit der Ungleichbehandlung der schwarzen Bevölkerung Amerikas konfrontiert. Sie sah, wie viel schwerer es deren Kinder hatten, sich im Unterricht zu behaupten – und nun beschämte es sie. «Damals machte ich politisch einen grossen Schritt nach links – und nie wieder einen zurück.» Wer Leons Krimis liest, dürfte davon nicht überrascht sein. Commissario Brunetti erlebt und überdenkt all die Themen, die auch seine Autorin beschäftigen.
Leon ist eine Beobachterin. Grade beobachte sie eine Zunahme von Rassismus und Sexismus in der Welt. «Ich schaue zu, und es widert mich an», sagt sie. Vor einer Einschränkung der Abtreibungsrechte etwa warnt sie seit Jahren. Allzu lange darüber diskutieren mag sie aber nicht mehr, denn stets komme «irgendwann der Punkt, wo ich sagen muss: Wozu das lange Reden? Die Klimaerwärmung wird all diese Probleme für uns lösen – indem sie die Menschheit irgendwann auslöscht.»
Leon holt aus, erzählt, wie es sie ärgert, dass man den kleinen Leuten mit dem CO2-Fussabdruck ein schlechtes Gewissen macht, während die Konzerne tun, was sie wollen. Wie sie manchmal vor Wut die Zeitung anschreie. Dann bricht sie wieder ab. «Ach», sagt sie, «sprechen wir lieber über etwas Gutes. Wussten Sie, dass Dolly Parton jedes Jahr eine Million Dollar in Form von Büchern für Kinder aus armen Familien spendet? Ich liebe Dolly Parton.»
Leons Schutzschilde
Längst hat die Zeit Isfahan vor 1979 und die Kindheit in New Jersey verschluckt. Venedig droht durch Touristenströme und Wassermassen das gleiche Schicksal. Leons am längsten währendes Paradies ist darum kein Ort, sondern ein Klang: jener der klassischen Musik. Während ihre Freundinnen als Teenager für Elvis schwärmten, hörte sie bei einem Weihnachtskonzert erstmals Händels «Messias». Seither ist sie dem Komponisten und der klassischen Musik ergeben.
Noten lesen allerdings kann Leon bis heute nicht – obwohl sie seit vielen Jahren das Barockorchester Il Pomo d’Oro fördert. Vielleicht erhielt sie sich so das Staunen des Mädchens von einst. Und vielleicht hatte sie, die bereits als Kind lernte, besser das zu tun, was man am liebsten macht, auch einfach keine Lust dazu.
Donna Leon, deren konstantester Lebensplan der Zufall war, weiss sehr genau, wie viel sie von sich preisgibt. Von sich selbst etwa erzählt sie lieber in einer stets ähnlichen Auswahl an Anekdoten. Miniaturen, die auch Schutzschilde sind für den Rest ihres Privatlebens. In der Öffentlichkeit steht eine nahbare, herzliche, aber kuratierte Version von ihr. Einzig in dieser Hinsicht überlässt sie dem Zufall eher wenig. Ihre Abenteuer erlebt sie lieber in Iran oder Italien, nicht in den Schlagzeilen.