Gegen Ende seines Lebens schreibt Dmitri Schostakowitsch eine letzte Sinfonie, seine fünfzehnte. Das durch und durch autobiografische Werk steckt voller Rätsel, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind. Es enthält eine Botschaft an die Nachwelt.
Er wartete auf die Verhaftung. Ein Freund nach dem anderen wurde abgeholt. Leute verschwanden nachts, und über Verschwundene wurde nicht gesprochen. Auch Familienmitglieder waren schon verhaftet worden: ein Onkel, die Schwiegermutter, der Schwager, Menschen, die ihm teuer und nah waren. Seine Schwester hatte sich von ihrem Mann lossagen müssen, um sich und ihre Angehörigen zu retten. Er hatte ein kleines Kind, seine Frau war schwanger.
Im Flur stand immer ein gepacktes Handköfferchen – das Zeichen, dass er bereit war für den Tod oder ein neues Leben im Unbekannten.
Schliesslich kam die Vorladung in das «Grosse Haus» am Liteiny-Prospekt. Das Gebäude des NKWD. Beim Verhör forderte man von ihm ein aufrichtiges Geständnis und eine Liste mit Beteiligten an einer Verschwörung gegen Stalin. Dann liess man ihn nach Hause – es war Samstag – und legte ihm nahe, «bis Montag zu überlegen». Am Montag erfuhr er, dass der zuständige Ermittler verhaftet worden war.
Jahrzehnte später, als Dmitri Schostakowitsch die 15. Sinfonie komponiert hatte, nannte er sie das autobiografischste seiner Werke. Diese Musik handelt von seinem Leben, vom Wichtigsten: dem Sieg über die Angst vor dem Tod.
Ein besonderes Werk
Es gibt bei Schostakowitsch keine nichtautobiografische Musik. Liebe und Leidenschaft, die vertraute Wärme des Kindes, die Freude an Gottes Welt, die Ohnmacht gegenüber dem menschlichen Bösen, aufgesetzte Hingabe gegenüber der Obrigkeit, heimlicher Hass, unterdrückter Ekel, Überleben in der Lüge. Sein ganzes Leben in einer Handvoll flüchtiger Klänge. Die 15. Sinfonie ist eine besondere. Die letzte. Sie ist seine Beichte. Seine Busse.
Er wusste genau, was um ihn herum vorging, und schrieb doch Musik, die der verlogenen Propaganda diente. Er hasste die Partei und war in sie eingetreten. Er verachtete die Lakaien der Sowjetmacht und hielt untertänige Reden. Als man ihn anwies, einen Stein auf einen Gerechten zu werfen, tat er es: Er unterschrieb zornige Erklärungen der «sowjetischen Intelligenz» gegen das Akademiemitglied Andrei Sacharow. Er wusste, er wurde als menschliches Antlitz eines Sklavenimperiums benutzt. Aber er wusste auch: Seine Musik hilft den Sklaven, zu überleben. Nicht allen, aber doch einigen.
Und er wusste, am Ende erwartete ihn die Rechtfertigung. Sein Werk würde ihn rechtfertigen.
Den ersten Teil der Sinfonie schreibt Schostakowitsch im Juni 1971 in einem Provinzkrankenhaus – in Kurgan, einer Stadt in der Ural-Region. Patienten aus dem ganzen Land kommen hierher, um den Arzt Gawriil Ilisarow aufzusuchen, der Wunder wirkt und unheilbar Erkrankte rettet. In den letzten Jahren seines Lebens ist der Komponist schwer krank. Er erleidet einen Herzinfarkt und bricht sich das Bein. Infolge einer chronischen Rückenmarkentzündung leidet er an einer fortschreitenden Lähmung der Gliedmassen – einer Krankheit, die auch die heutige Medizin nicht aufzuhalten vermag. Er kann nicht mehr Klavier spielen.
Schostakowitsch will an ein Wunder glauben. Ilisarow verspricht, ihm mithilfe von Gymnastikübungen die ertaubenden Hände zurückzugeben, und das Wunder geschieht. Schostakowitsch schreibt aus dem Krankenhaus: «Gawriil Abramowitsch behandelt nicht einfach nur Krankheiten, er heilt den Menschen.»
Er beendet die Arbeit an der Sinfonie im Juli in Repino bei Leningrad. Nach der Behandlung bei Ilisarow hatte er sich viel besser gefühlt, aber die Besserung war nicht von Dauer. Er wusste, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit blieb. In einem Interview sagte er über die Fünfzehnte: «Es ist sonderbar: Ich habe im Krankenhaus komponiert, dann nach der Entlassung auf der Datscha, wissen Sie, es war mir völlig unmöglich, mich davon loszureissen. Sie ist eines der Werke, die mich einfach sehr gepackt haben, und (. . .) vielleicht eine der wenigen meiner Kompositionen, die mir von der ersten bis zur letzten Note klar erschienen, ich brauchte nur die Zeit, um das aufzuschreiben.»
Am 26. August schrieb Schostakowitsch an die Schriftstellerin Marietta Schaginjan: «Ich habe viel an der Sinfonie gearbeitet. Bis mir die Tränen kamen – nicht, weil sie so traurig wäre, sondern weil meine Augen stark ermüdeten. Ich war sogar beim Augenarzt, der mir empfahl, eine kurze Pause von der Arbeit einzulegen. Diese Pause ist mich sehr hart angekommen. Wenn die Arbeit gut von der Hand geht, ist es eine Qual, sie zu unterbrechen.»
Versteckte Anspielungen
Die fünf Phasen des Sieges über den Tod sind: Leugnung. Zorn. Verhandeln. Depression. Annahme. Die 15. Sinfonie ist die Annahme. Diese Musik ist Schostakowitschs Köfferchen. Er ist bereit für den Tod oder ein neues Leben im Unbekannten.
Die Angst des Menschen vor dem Tod kann nur durch eines überwunden werden: das Wissen um den Tod. In dieser Musik geht es nicht um den Verfall des Fleisches, sondern um das Licht. Sie selbst ist dieses ewige Licht.
Nach Beendigung der Sinfonie schrieb Schostakowitsch am 16. September 1971 an seinen Freund und Biografen Krzysztof Meyer: «Ich sollte wohl nicht mehr komponieren. Dabei kann ich ohne das doch nicht leben.» Am nächsten Tag wurde er mit dem zweiten Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert.
Nachdem er die Fünfzehnte vollendet hatte, schrieb er anderthalb Jahre lang keine einzige Note. Erstmals in seinem Leben hörte er vollständig auf zu arbeiten. Ihm blieb nur noch sehr wenig Lebenszeit. Bei einer ärztlichen Untersuchung wurde Krebs diagnostiziert. Die Metastasen waren schon überall im Körper.
Die Musikwissenschafter weisen auf die Fülle musikalischer Zitate in der 15. Sinfonie hin – Motive von Rossini und Wagner, das wiederholte Auftreten des B-A-C-H-Motivs im Finale, Verweise auf Strawinsky, Hindemith, Mahler. Diese Collage ist für Schostakowitschs Schaffen nicht typisch und wird oft als rätselhaft bezeichnet. Er ruft die auf, denen er entgegengeht – die Unsterblichen.
In seinen Briefen ist die Rede von «genauen Zitaten» aus Beethovens Werk. Generationen von Forschern haben das Werk bis ins kleinste Glied seziert und jede Note geprüft, aber nachdem sie keinerlei direkte Anleihen bei Beethoven finden konnten, blieb ihnen unverständlich, was Dmitri Schostakowitsch meinte.
Beethoven hat es verstanden. Dies ist keine Abschiedssinfonie. Es ist eine Sinfonie der Begegnung.
Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, wurde mit den wichtigsten russischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Er gehört zu den prominentesten russischen Kritikern Putins im Exil.